2. Skeptische Individualisten
(Montaigne, Charron, Sanchez)
2. Der Humanismus dieser Männer und noch mehr derjenigen, die wir im folgenden zu betrachten haben, ist, wir möchten sagen, ciceronianischer Art; er charakterisiert sich durch den Überdruß an metaphysischen Begriffen und Erörterungen und sucht den Zusammenhang mit dem Leben und der verfeinerten Kultur. Das führte dann weiter zu einem mehr oder weniger weltmännischen Skeptizismus, der sich mit dem aus der Renaissance entsprungenen Individualismus zu einem Ganzen verbindet. Er stellt sich im 16. Jahrhundert in Frankreich unter den drei Typen des Edelmannes (Montaigne), des Priesters (Charron) und des Arztes (Sanchez) dar. Die beiden ersteren schreiben schon in der Landessprache, der letzte, ein geborener Portugiese, lateinisch.
a) Michel de Montaigne (1533-1592), der Erfinder des leichten Essais, noch heute von seinen Landsleuten als hervorragender Schriftsteller, von uns wenigstens als geistreicher und liebenswürdiger Plauderer geschätzt, gehört allerdings nicht zu den Philosophen im strengeren Sinne. Seine zuerst 1580 zu Bordeaux erschienenen Essais bilden eine mit antiken Reminiszenzen gefüllte Fundgrube keck hingeworfener Ideen, die er äußert, wie sie ihm gerade einfallen, absichtlich jeden systematischen Zusammenhang verschmähend. »Als Skeptiker ist Montaigne kein müder Geist wie Pyrrho..., kein beißender Zweifler wie Timon, kein dröhnender wie Karneades, kein Dialektiker wie Arkesilaos, kein Systematiker wie Änesidem, kein Pedant wie Sextus, sondern ein ruhig genießender, über den dogmatischen Wahn seiner Mitmenschen mehr humoristisch als sarkastisch lächelnder Beschauer des Lebens« (R. Richter, Der Skeptizismus II S. 65). Aber hinter all dem scheinbar leichten Esprit steckt doch eine ernstere Weltanschauung, die sich dem Nil admirari der Alten nähert, wie er denn neben dem Skeptiker Sextus Empirikus auch Seneka und Plutarch als Muster verehrt. Es gibt für ihn keine sichere, allgemein zugestandene Erkenntnis, weder durch die Sinne, noch durch das Denken. Wir selbst sind es, die den Wert in die Dinge hineinlegen und die Begriffe von Gut und Böse erst schaffen. Daher soll man die Welt wie ein Schauspiel betrachten und das Leben heiter, jedoch »der Natur gemäß« genießen. Hinter seinem skeptischen: que sais-je? steckt eben doch das Festhalten an der Natur als der großen Lehrerin der Menschen, das sich u. a. auch in seinen vielfach schon an Rousseau erinnernden Erziehungsgrundsätzen ausdrückt. Natürlichkeit, Ehrlichkeit gegen sich und andere, Treue gegen sich selbst: das sind seine Leitsterne. Er ist zwar ein überzeugter Anhänger der göttlichen Offenbarung und zieht, namentlich in seinem ausführlichsten Essai, der »Apologie des Raymond de Sebonde« (vgl. oben S. 277), gegen den Hochmut der menschlichen Vernunft und Philosophie zu Felde. Aber er legt doch den Hauptwert auf die innere Gesinnung; Dogmatik und Kirchenlehre überläßt er den Theologen als den »Würdigeren« Da wir das Göttliche (Religion) und Gerechte (Staat) nicht zu erkennen vermögen, fügen wir uns in die bestehenden Ordnungen! Von den wilden Parteiungen seiner Zeit (der Religionskriege) hielt sich der kühle Lebenskünstler mit Bewußtsein fern. Eine gute deutsche Übersetzung Ausgewählter Essais (in 5 Bänden) hat E. Kühn (Straßburg 1900 ff.) herausgegeben, eine andere, vollständige W. Vollgraff (Berlin 1908 f.). Die historisch- kritische Ausgabe seiner gesammelten Schriften (8 Bände) von Flake und Weigand ist zurzeit noch nicht vollendet. Vgl. über ihn Bonnefou, M. et ses amis, 2 Bde., 1898; F. Strowski, Montaigne, Paris 1906; Weigand, Montaigne, Mchn. 1911.
b) Verwandt und doch in mancher Beziehung wieder entgegengesetzt ist dem südfranzösischen Edelmann sein jüngerer Freund und Anhänger, der als Kanzelredner ausgezeichnete Pariser Priester Pierre Charron (1541 bis 1603). Auch seine Grundlage ist die menschliche Natur, aber bei ihm, tritt deren sittlich- praktische Seite mehr hervor. Sein Hauptwerk De la sagesse (Bordeaux 1601), schulmäßiger, daher auch weniger unterhaltend als Montaignes kurzweilige Essais, ist das erste in einer neueren Sprache geschriebene moralphilosophische, nicht theologische Buch. Die Religionskriege mit ihrer moralischen Verwirrung hatten einen abschreckenden Eindruck auf das heiter-weise, wenn auch mitunter leidenschaftlich aufflammende Gemüt des menschenfreundlichen katholischen Priesters gemacht. Das Leben erscheint ihm als eine Kette von Irrtümern und Übeln, der Mensch nur des Mittelmäßigen fähig, in beständigem Elend lebend. Worin liegt unter solchen Umständen die wahre Weisheit? In der durchdringenden Erkenntnis der menschlichen Natur und damit der Schranken unseres Wissens, die uns zur Rechtschaffenheit, Natürlichkeit und Frömmigkeit und ihren Früchten: Gleichmut und Seelenruhe, leitet. Ein wie treuer Sohn seiner Kirche Charron auch ist - er hat sie auch literarisch gegen Protestanten und Freidenker verteidigt -, höher stehen ihm Natur, Vernunft und echte Sittlichkeit. Du sollst rechtschaffen sein, »weil Natur und Vernunft, das heißt Gott, es gebieten« Sittlichkeit muß der Religion vorausgehen, nicht umgekehrt. »Man traue niemand, dessen Moralität allein auf religiösen Skrupeln beruht.« Ja, er erhebt sich einmal zu dem Ausruf: »Ich will, dass man ein guter Mensch sei, auch wenn es kein Paradies und keine Hölle gibt!« Diese neuen Elemente setzen sich freilich nur erst stellenweise bei ihm durch. Die freiesten Stellen hat er später aus seinen Schriften ausgemerzt, die Lehre des Kopernikus verwirft er, und das Höchste bleibt ihm schließlich doch die göttliche Offenbarung.
c) Wie Montaigne, war auch der Arzt Franz Sanchez aus Portugal (1562-1632) in Bordeaux gebildet; bereits mit 22 Jahren lehrte er als Professor an der berühmten medizinischen Hochschule zu Montpellier. Schon der Titel seiner philosophischen Hauptschrift Quod nihil scitur verrät seinen skeptischen Standpunkt, den er mit größerer Schärfe als Montaigne und Charron vertritt und vor allem gegen die scholastische Syllogistik und Dialektik herauskehrt. Aber auch er bleibt nicht dabei stehen. Das wahre Wissen besitze allerdings nur Gott, die oberste Ursache aller Dinge; aber in dem Aufsuchen der »Zwischenursachen« stehe der Wissenschaft (Philosophie) ein reiches Arbeitsfeld offen, auf dem sie durch eifrige Forschung zu neuen Entdeckungen und Erfindungen gelangen könne. Er selbst freilich leistet noch keinen Beitrag zu der neuen Wissenschaft, und in den Einzelproblemen zeigt er sich vielfach von der italienischen Naturphilosophie (§ 3) abhängig. Die Betrachtung des menschlichen Tuns und Treibens stimmt auch ihn zu Nachsicht und Duldsamkeit.
Die geistreiche Lebensweisheit der drei vorgenannten Denker fand gerade in Frankreich, dem klassischen Lande des Esprit, viele Anhängerand drängte die trockene Schulgelehrsamkeit der Universitäten immer mehr zurück.