2. Die Reformatoren


2. In den germanischen Ländern wurde überhaupt die humanistische Bewegung verhältnismäßig rasch abgelöst von der mächtigeren religiösen, die Renaissance von der Reformation. Eins sind beide darin, dass sie Klärung und Vereinfachung des Lebens erstreben, gegen alle fremde Autorität sich auflehnen und auf das Recht des Individuums zurückgehen; aber der Reformation ist es dabei nicht um des letzteren Stellung zur Welt, sondern zu Gott, also ausschließlich um das religiöse Problem zu tun.

Die Reformatoren besitzen demgemäß auch keine selbständige philosophische Bedeutung. Luther stand persönlich Augustin und den praktischen Mystikern (I, § 69, 2) am nächsten und trat anfangs scharf gegen Aristoteles als die »Wehr der Papisten« auf, erklärte aber dann die Vernunft für die Buhlin des Teufels und verließ sich im übrigen in philosophischen Dingen auf seinen gelehrten Freund Melanchthon. Dieser humanistisch gebildete deutsche Professor und »Lehrer Germaniens« suchte, seiner vermittelnden Natur gemäß, eine Ausgleichung von Vernunft und Christentum, Humanismus und lutherischem Dogma zu bewerkstelligen. Es gelang ihm denn auch, einen christlich und humanistisch gemilderten Aristotelismus an den protestantischen Universitäten einzuführen. Er selbst hat eine Reihe lateinisch geschriebener Lehrbücher verfaßt, die aus seinen Vorlesungen über Psychologie, Physik, Dialektik und Ethik erwachsen sind und sich durch musterhafte Klarheit und Anordnung des Stoffes auszeichnen. (Sie finden sich im 13. und 16. Bande der Bretschneiderschen Ausgabe von Melanchthons Werken.) Das philosophisch Interessierende daran ist die nach Dilthey in erster Linie aus Cicero geschöpfte Lehre vom »natürlichen Licht« der Vernunft, das uns von Gott selbst zur Richtschnur gegeben ist. Aus der natürlichen Vernunft fließen die unmittelbar einleuchtenden theoretischen und praktischen Prinzipien unserer Erkenntnis. Diese für die philosophische Entwicklung des folgenden (17.) Jahrhunderts höchst bedeutsamen Sätze sucht Melanchthon nun mit den Heilswahrheiten der Bibel zu verschmelzen, ohne dass ihm das recht gelingt. Die weltliche Wissenschaft und Ethik steht mehr äußerlich daneben. So wird z.B. die Moralphilosophie bestimmt als »derjenige Teil des göttlichen Gesetzes, der Vorschriften über die äußeren Handlungen gibtü; die kopernikanische Lehre wird aus theologischem Vorurteil verworfen, astrologische Träumereien und Geistererscheinungen dagegen nicht. Überhaupt fehlt Melanchthons das gelehrte Wissen der Zeit umspannendem Geiste das schöpferische Vermögen. Dagegen hat sein mit großem Organisationstalent verbundenes didaktisches Geschick Deutschlands gesamtem höheren Schulwesen jene Verbindung des klassischen Altertums mit dem biblischen Christentum eingeimpft, die zum Teil heute noch vorhanden ist. Den protestantischen Universitäten insbesondere gab er noch für zwei Jahrhunderte die geistige Richtung, sodass an ihnen eine Art protestantischer Scholastik aufkam, die sich nicht weniger wie die alte als ein Hemmnis freien Denkens erwies. - Calvin, der vor seiner Bekehrung zum Protestantismus Senekas Schrift De clementia herausgab, wird später fast noch mehr als Luther ausschließlich (augustinisch gerichteter) Theologe, sodass seine Behandlung nicht hierher gehört, während Zwingli dem alten (Plato, Cicero, Seneka) wie dem neuen Humanismus (Pico) äußerlich und innerlich näher steht.

Die Bedeutung der Reformatoren für die philosophische Entwicklung beruht nicht sowohl auf einzelnen ihrer Lehren oder ihrer Stellung zu früheren Philosophen als in der allgemeinen Richtung: dem Zurückgehen auf die Persönlichkeit und einer größeren Natürlichkeit im Denken, Wollen und Fühlen. Es ist bekannt und braucht hier nicht des Näheren ausgeführt zu werden, wie der mächtige Anlauf, den die erste Jugendzeit der Reformation genommen hatte, die Schranken des mittelalterlichen Denkens kühn zu durchbrechen, schon zu Luthers Lebzeiten und nicht ohne seine Schuld sich in ein starres Festhalten am Buchstaben der Bibel, am Christentum als einer Summe uns überlieferter, der eigenen Vernunft zum Teil schroff widersprechender »Heilstatsachen« und -lehren verwandelte. Wohl versuchten einzelne Gelehrte wie der von Leibniz gelobte, übrigens durchaus kirchlich gesinnte Altorfer Professor Nikolaus Taurellus (Öchslein? 1547 bis 1606), eine über den engsten Konfessionsglauben sich erhebende Philosophie des Christentums herzustellen; indessen fanden sie keinen Anklang in weiteren Kreisen. Eher gelang dies, freilich nur unter harter Verfolgung seitens der immer mehr dogmatisch erstarrenden Kirche, einzelnen Vertretern theosophischer Mystik und Innerlichkeit.


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