1. Persönlichkeit und schriftstellerische Entwicklung.


Rousseau ist kein Aufklärer, sondern ein Gegner der Aufklärung. Man hat zur Erklärung dieser Tatsache mit Recht auf seine Abstammung aus dem Volke und zwar aus dem demokratisch-protestantischen Genf hingewiesen. Allein das erschöpft die Sache nicht. Der Grundzug seines Lebens und seiner Philosophie ist vielmehr sein überschwengliches Gefühl. Gegenüber der Philosophie und dem Egoismus des Verstandes macht er die natürlichen und sittlichen Gefühle des Herzens, gegenüber dem Assoziationsmechanismus und psychologischen Atomismus der Materialisten und Sensualisten die Selbständigkeit der menschlichen Persönlichkeit geltend. Das geistige Leben vollzieht sich nicht bloß in uns, sondern wird auch durch uns bestimmt. Auch das Gefühl gehört zu den Erkenntnisquellen. Nach seinem eigenen Geständnis war Rousseau »langsam im Denken, lebhaft im Gefühl« Die philosophischen Konsequenzen dieses Standpunktes sind es, die wir im folgenden zu charakterisieren haben.

Im Jahre 1749 stellte die Akademie von Dijon die Preisaufgabe: ob die Erneuerung der Wissenschaften und Künste zur Veredlung der Sitten beigetragen habe? Diese Frage traf Rousseau, der nach mancherlei Schicksalen damals in Paris lebte und von den Enzyklopädisten schon als einer der Ihrigen betrachtet wurde, wie ein Blitzstrahl. Er sah, wie er selbst berichtet, plötzlich eine ganz neue Welt vor sich: entgegen der Welt des Verstandes, der Äußerlichkeit, der Konvention die des Gefühls, der Innerlichkeit, der Persönlichkeit, der Natur. Die Bearbeitung (der Discours sur les sciences et les arts), mit der Rousseau den Preis gewann, indem er die Frage in durchaus verneinendem Sinne entschied, war zwar in der Begründung ziemlich schwach und unreif, aber sie wirkte durch die Glut der Begeisterung, die aus dem Verfasser redete, und machte ihn mit einem Schlage zum berühmten Mann.

Eine zweite von derselben Akademie fünf Jahre später gestellte Preisaufgabe: »Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und ist sie durch das Naturgesetz gerechtfertigt?« reizte Rousseau aufs neue zur Bearbeitung. Hatte er in seiner ersten Abhandlung der falschen Bildung den Krieg erklärt, so stellt er jetzt den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen, die nur Herren und Knechte kennen, die Idee eines an sich guten ursprünglichen Naturzustandes gegenüber. Hat es einen solchen in Wirklichkeit vielleicht auch nie gegeben - Rousseau will ihn keineswegs, wie man meistens annimmt, als geschichtliche Tatsache hinstellen -, so kann er uns doch zum Richtmaß dienen. Die Ungleichheit entspringt aus der Entstehung des Eigentums, das sich alsbald mit Gesetzlichkeit und Recht umgibt (Arme und Reiche), der Obrigkeit (Starke und Schwache) und der Willkür- und Gewaltherrschaft (Herren und Diener). Es gilt heute für uns, wieder von vorne anzufangen, eine möglichst natürliche Gestaltung des menschlichen Lebens durch Erziehung und Staatseinrichtungen zu erreichen.

Während die beiden Discours die bestehenden Zustände, das Frankreich Ludwigs XV. kritisch verneinen, enthalten die beiden im Jahre 1762 erschienenen philosophischen Hauptschriften Rousseaus den positiven Neubau. Der falschen Bildung, gegen die der erste Diskurs geeifert hatte, stellt der Emile die rechte Bildung und die wahre Religion, dem Staate der Ungleichheit und der Willkür, den die Abhandlung von 1754 bekämpfte, der Contrat social den rechten Staat gegenüber.


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