III. Voltaire


Voltaire (1694-1778, eigentlich J. M. Arouet), dessen Leben, literarische und Kulturbedeutung hier nicht darzustellen sind, hat gleich Montesquieu die nachhaltigsten philosophischen Eindrücke durch seinen Besuch in England (1726-28) empfangen. Von dort verpflanzt er Lockes Empirismus, Newtons Naturphilosophie und die natürliche Religion des Deismus nach Frankreich. Seine bewundernden Briefe Sur les Anglais (1728) wurden in Frankreich anfangs auf Befehl der Zensur verbrannt, seinen Eléments de la philosophie de Newton erst 1741 die Druckerlaubnis gewährt. Zu Locke fühlt er sich auch noch später (vgl. Le philosophe ignorant 1767) am meisten hingezogen: alles rührt von der Empfindung her, diese aber von der seit Ewigkeit vorhandenen, von Gott geordneten Materie. Aber Voltaire ist kein Systematiker, sondern nur ein begeisterter und gewandter Verbreiter und Popularisator fremder Ideen (vgl. besonders sein Dictionnaire philosophique portatif, 1764). Anfangs ist er durchaus Deist und begeisterter Verkünder der drei Dogmen der deistischen Aufklärung: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit; später ist in dieser Beziehung ein deutliches Schwanken, ja ein gewisser, wenn auch nicht vollständiger, Umschwung wahrnehmbar.

An der Existenz Gottes freilich hat er, was man über seiner Kirchenfeindschaft oft vergessen hat, immer festgehalten. Zwar galt sein Kampf in erster Linie dem kirchlichen Aberglauben mit seinem Gefolge: Intoleranz und Fanatismus, und in diesem Sinne ist das berüchtigte Ecrasez l'infâme (sc. die Kirche) zu verstehen, das er am Schluß seiner Briefe an vertraute Freunde anzubringen pflegte. Aber daneben hat er stets auch den Atheismus bekämpft, namentlich in seiner Réponse au Système de la nature (1777): »Wir verdammen den Atheismus, verabscheuen den Aberglauben, lieben Gott und die Menschheit.«

Religion besteht ihm in der Anbetung des höchsten Wesens. Das bekannte Wort: »Gäbe es keinen Gott, so müßte man ihn erfinden«, ist durchaus ernsthaft gemeint; denn »die ganze Natur verkündigt laut, dass er existiert.« Nur bevorzugt er später immer mehr den moralischen vor dem theologischen Beweis. Damit hängt denn auch sein Abschwenken von dem anfangs mit Leibniz und Shaftesbury geteilten Optimismus zusammen, den er bekanntlich in seinem Candide (1757) beißend verspottete. Das furchtbare Erdbeben von Lissabon (1755) war nicht ohne Einfluß auf diese Wandlung seiner Ansichten geblieben. Auch in der Frage der Unsterblichkeit der Seele und der Freiheit des Willens neigt er später mehr dem Skeptizismus und Determinismus zu. Die Unsterblichkeit bleibt ihm nur eine schöne Hoffnung, höchstens ein sittliches Postulat. Überhaupt scheint ihm alle Spekulation wertlos im Verhältnis zum Praktischen. Statt spekulative Fragen zu erörtern, »laßt uns hingehen und unseren Garten bebauen«, schließt sein Candide; und ein andermal heißt es: »Gott gab dir den Verstand, um dich zum Rechten zu leiten, nicht um in das Wesen der erschaffenen Dinge einzudringen.«

Dagegen ist ihm Moral die wahre und einzige Religion und Philosophie. »Ich führe immer, so viel als möglich, meine Metaphysik auf die Moral zurück«, schreibt er 1737 an Friedrich den Großen. Auf diesem Felde hält er an den, sonst von ihm mit Locke bekämpften, angeborenen Ideen fest, hier geht er auf den im übrigen von ihm als Beweismittel nicht anerkannten consensus gentium zurück. Wie sehr auch der Inhalt der sittlichen Vorschriften wechseln mag, das Bewußtsein des Rechten bleibt unverändert. Die Vernunft belehrt uns über Tugend und Laster ebenso sicher, wie sie lehrt, dass 2 x 2 = 4 ist. Alle Philosophen von Zoroaster bis Shaftesbury lehren im Grunde dieselbe Moral. Mit angenehmen Empfindungen hat die Tugend an sich nichts zu schaffen. Der sonst so sarkastische Spötter wird schwärmerisch begeistert, wenn er auf das Wohl der Menschheit zu reden kommt. Er sieht »das Zeitalter der Vernunft« und Aufklärung hereinbrechen, allerdings - nur für die »anständigen Leute«, nicht für die »Canaille«, die »Lakaien, Schuster und Dienstmädchen« Er ahnte nicht, dass noch zu seinen Lebzeiten auch Lakaien (Rousseau) zu philosophieren beginnen, dass bald die Revolution mit ehernem Tritt auch über seine honnêtes gens zur Tagesordnung übergehen würde. Zu einer mehr als rhetorischen Begründung seiner Moral hat es Voltaire freilich nicht gebracht. Ähnlich zeigt sich auch in der Politik, die er übrigens nicht, wie Montesquieu und Rousseau, im Zusammenhang bearbeitet hat, die Oberflächlichkeit seines Liberalismus im vollsten Lichte. Er weiß zwar schön von Freiheit und Gleichheit zu reden, aber er erwartet das Heil vom aufgeklärten Despotismus, wie er denn auch mit den Monarchen von Preußen, Rußland, Dänemark und Schweden in persönlicher Verbindung stand. »Das Volk hat zur Selbstbildung weder Zeit noch Fähigkeit. Es scheint nötig, dass es einen unwissenden Pöbel gebe; wenn dieser zu vernünfteln anfängt, so ist alles verloren!« Seine Philosophie der Geschichte (1765) - er hat diesen Ausdruck zum erstenmal gebraucht - baut auf den von Montesquieu gelegten Grundlagen fort, nur unter Bevorzugung der »moralischen« vor den physischen Ursachen. Doch fehlt es ihm, wie den meisten Aufklärern, an historischem Sinne. Bei all seinem gewaltigen Einfluß auf die Entwicklung des freien Denkens spielt somit Voltaire philosophisch keineswegs eine hervorragende Rolle.

Des zeitlichen Zusammenhanges wegen schließen wir hier noch den Baron von Maupertuis (1698 -1759) an, der 1736 die erste Gradmessung in Lappland leitete, später von Friedrich dem Großen für Berlin gewonnen und 1746 zum Präsidenten der dortigen Akademie ernannt wurde, die er bis zu seinem Tode fast allein regierte. Maupertuis ist einer der ersten Newtonianer in Frankreich. In der Philosophie Eklektiker, verbindet er Locke mit Berkeley und Hume, indem er sogar die reine Mathematik und Mechanik empirisch ableiten will, der Unterscheidung der primären und sekundären Qualitäten alle reale Bedeutung abspricht und den Kraftbegriff für höchst verschwommen erklärt. Um so sicherer findet er dagegen die uns nicht erkennbaren letzten Naturgesetze, das Wesen der Dinge im Grundplan der göttlichen Verfassung des Weltalls verankert und bekämpft eifrig mit teleologischen Gründen den Materialismus. Letzterer gewann gleichwohl in seiner Heimat die Oberhand.

 

Literatur: Vgl. D. F. Strauß, Voltaire, 6 Vorträge, Lpz. 1870, 4. Aufl. 1877. John Morley, London 1872. Mahrenholz, Oppeln 1675. Das meiste Material bieten die 8 Bände von Desnoiresterres, Voltaire et la société au 18. siècle, Lpz. 1872. - Ins Deutsche übersetzt, mit Einleitung und Anmerkungen (in Auswahl) von A. Ellissen, Lpz. 1844-46. Über seine Philosophie vgl. P. Sakmann im Arch. f. Gesch. d. Philos., Bd. 18 (1905) und: Voltaires Geistesart und Gedankenwelt. Stuttgart 1909.


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