1. Materialismus
(Buffon, La Mettrie, Robinet)
In der Konsequenz der natürlichen Weltanschauung des Newtonschen Systems lag es, über dessen Urheber hinauszugehen und die von diesem noch bejahte Frage nach einem außerweltlichen Schöpfer in der Schwebe zu lassen. In diesem Sinne wirkte
a) Buffon (1707-1788) mit seinem Riesenwerke, der Allgemeinen und besonderen Naturgeschichte, die von 1749 bis 1788 in 36 Bänden, wozu 1789 noch 7 Supplementbände kamen, erschien. Sie verdrängte bald Voltaires deistischen Naturmechanismus aus den Pariser Salons. Buffon bezauberte nicht bloß durch seinen vortrefflichen Stil, sondern namentlich auch durch seine Art, die Natur nicht vom Standpunkt des Spezialforschers, sondern als einen großen Organismus anzusehen. Er leitete alle Lebewesen von organischen Molekülen ab, ist also gewissermaßen ein Vorläufer der modernen Zellentheorie. Gebrauchte er auch als Direktor des Königl. Botanischen Gartens die Vorsicht, sich des Wortes »Schöpfer« zu bedienen, wo er an sich lieber »Naturkraft« gesagt hätte, so dachte er in seinem Inneren wohl kaum sehr verschieden von dem eigentlichen Wortführer des französischen Materialismus, der ihn vielleicht schon beeinflußt hat:
b) Dem Arzt und Philosophen La Mettrie (1709 bis 1751), aus St. Malo in der Bretagne, der, anfänglich zum Theologen bestimmt, bald zur Medizin überging und Schüler des berühmten, spinozistisch gesinnten Arztes Boerhaave in Leyden wurde. Durch die in seiner Naturgeschichte der Seele (1745) offen ausgesprochene Überzeugung von der Körperlichkeit der Seele verscherzte La Mettrie sich seine Stellung als Militärarzt; er flüchtete nach Holland. Das Ärgernis, welches er durch seine neue Schrift L'homme machine (1747, deutsch in der Phil. Bibl. mit Einleitung usw. von Max Brahn 1909) erregte, vertrieb ihn auch von dort. Das verfolgte »Opfer der Pfaffen und der Narren« fand eine Zuflucht bei dem freidenkerischen Preußenkönig, der ihn zu seinem Vorleser und zum Mitgliede der Akademie ernannte. In Potsdam verfaßte er seinen L'homme plante, den moralphilosophischen Discours sur le bonheur und sein Système d'Epicure. Er starb bereits 1751 plötzlich, wie es heißt, infolge einer Unmäßigkeit, wahrscheinlich aber durch falsche medizinische Selbstbehandlung; von Friedrich II. wurde sein Andenken durch eine offizielle akademische Rede (Eloge de L. 1752) geehrt. Sein konsequenter Materialismus wie seine »epikureischen« Schriften haben ihn frühe in, wie es scheint, unverschuldeten üblen Ruf gebracht; sodass schon seine materialistischen Gesinnungsgenossen ihn, den Extremsten, von sich abzuschütteln suchten. Eine gerechtere Würdigung hat zuerst F. A. Lange in seiner Geschichte des Materialismus, S. 270-303, angebahnt; vgl. auch den Vortrag von Du Bois-Reymond 1875, die Monographien von Poritzky, La Mettrie, sein Leben und seine Werke, Berlin 1900, und B. Bergmann (Leipzig 1912), sowie die Einleitung Brahns zu seiner Ausgabe.
Durch Selbstbeobachtung während eines hitzigen Fiebers kam La Mettrie auf den Gedanken, dass unser gesamtes Denken gänzlich von unserer körperlichen Organisation abhänge. Eine körperlose Seele ist nicht zu begreifen. Von den gewöhnlichen scholastischen und cartesianischen Schulbegriffen ausgehend - Descartes selber hatte ja bezüglich der Tiere den biologischen Mechanismus anerkannt! -, führt die Naturgeschichte der Seele ganz allmählich zum Materialismus, der nur die Konsequenz des Cartesianismus sei. Auf die Sinnenempfindungen muß man zurückgehen, wenn man die Wahrheit erkennen will. Keine Sinne, keine Ideen; je weniger Sinne, um so weniger Ideen. Dächte man sich einen Menschen von seiner ersten Jugend an in einem dunklen Keller ohne Gesellschaft mit anderen aufgewachsen, so würde er den Zustand völliger geistiger Leere repräsentieren: ein Gedanke, dem wir schon bei dem Kirchenvater Arnobius - I, § 53, 6 - begegnet sind und bei Condillac wieder begegnen werden. Die Empfindung haftet am Stoffe. Der Mensch ist eine Maschine, wie die gleichnamige zweite Hauptschrift offen ausspricht, das Denken eine Funktion des Körpers und zwar des Gehirns.
Anderseits dehnt La Mettrie die Fähigkeit des Empfindens auf alles Lebendige aus (vgl. namentlich L'homme plante). Der Mensch nimmt unter diesen Lebewesen die höchste Stelle ein und besitzt »Geist«, weil er die meisten Bedürfnisse hat. Die Hoheit seines Geistes beruht nicht auf dessen vermeinter Körperlosigkeit, sondern auf seinem Umfange und seiner Klarheit, diese aber auf der Feinheit seiner Gehirnwindungen; er braucht nicht darüber zu erröten, dass er aus dem Schlamme geboren ist. Das Lebensprinzip steckt in den kleinsten Fasern des Körpers, nicht in einer rätselhaften »Seele«.
Diesem theoretischen Untergrund entspricht unseres Materialisten völlig sensualistische Ethik. Wir sind nicht alle geschaffen, um gelehrt, wohl aber, um glücklich zu sein. Das Glück aber sieht La Mettrie allein in der Lust, die jedoch ihrem Werte nach sehr verschieden sein kann, je nachdem sie grob oder fein, kurz oder dauernd ist. Im Grunde freilich sind auch die geistigen Genüsse nur ein Sonderfall der allgemeinen sinnlichen Lust. Aber derjenige, den seine Begriffe von Tugend und Ehre reizen, seine Kräfte in den Dienst des Gemeinwohls zu stellen, genießt ein höheres Glück als der, bei welchem die privaten Interessen die öffentlichen überwiegen. Durch Wohltun und Sympathie erhöht man sein eigenes Lustgefühl. Reue und Gewissensbisse sind unnütz, ja verwerflich, weil sie die Summe der Unlust in der Welt vermehren. Der Verbrecher ist als Kranker zu betrachten, La Mettrie also ein Vorläufer Lombrosos u. a. An die Stelle der Theologen und Juristen sollen Ärzte treten.
Über jenseitige Dinge machte La Mettrie sich wenig Skrupel. Nur durch Beobachtung und Erfahrung, nicht durch apriorische Konstruktionen lernen wir Welt und Menschen kennen. Indessen gibt er an einer Stelle die Möglichkeit eines Weiterlebens nach dem Tode zu, da ja auch die Raupe nicht wisse, dass ein Schmetterling aus ihr werden soll. Ebenso mag ein Gott existieren; aber es ist Torheit, sich um ein solches rein theoretisches Prinzip zu kümmern. Als Atheist lebt man am glücklichsten.
c) Mit La Mettrie schritten die meisten französischen Naturalisten, nur weniger offen als er, zum Materialismus fort, indem sie das Geistige aus dem Materiellen, das Organische aus dem Anorganischen abzuleiten suchten. Den umgekehrten Weg schlägt Robinet (1735-1820) ein, der in seinem Hauptwerke De la nature (1761) alles auf das Organische zurückleitet, also einen universalen Vitalismus annimmt. Durch Leibniz' Monadenlehre beeinflußt, lehrt er Empfindungsfähigkeit der kleinsten Stoffteilchen und nimmt, wie jener, in einem zweiten Werke (1767) eine kontinuierliche Stufenreihe aller Wesen an, teilt aber nicht seine theologische Stellung, ist vielmehr eher Pantheist. Die Gesamtsumme aller Kräfte des Weltalls bleibt die gleiche, das Mehr an der einen Stelle gleicht sich durch ein Minder an der anderen aus; das bezieht sich auch auf Lust und Schmerz. Seine Lehre von der Erzeugung der Wesen (einschließlich der Sterne, Metalle usw.!) ist der Buffons ähnlich. Dem moralischen Sinn, den er mit Hutcheson und Hume annimmt, entsprechen besondere Gehirnfibern! Die unbekannte Weltursache, die wir Gott nennen, ist in Wahrheit unerkennbar; alle ihm beigelegten Eigenschaften sind Anthropomorphismen. Robinets Werke erregten zwar anfänglich Aufsehen, drangen aber auf die Dauer nicht durch, vielleicht wegen ihres Mangels an Esprit und wegen der Kompliziertheit seiner eigenartigen Lehre. Weit besser gelang dies dem Sensualismus Condillacs.