2. Erziehungs- und Religionslehre


Der Emile, in seiner äußeren Form bekanntlich halb Lehrbuch halb Roman, enthält sowohl Rousseaus Erziehungs- wie seine religiösen Grundsätze. Der Mensch ist von Natur gut. Darum der natürlichen Entwicklung freie Bahn! Weder Autoritäts- noch Aufklärungszwang, sondern Entfaltung von innen heraus! Die Erziehung soll die Natur walten lassen und die Künstelei fern halten, womit allerdings die Kunstgriffe des höchst weisen Erziehers seines Emil nicht immer stimmen. Übe die körperlichen Organe und Sinne deines Zöglings, aber halte seine Seele möglichst lange müßig! Am liebsten würde Rousseau das Kind, über dessen Seele er manche treffende Bemerkung macht, ganz der Erziehung der Natur und der Dinge überlassen, aber er sieht ein, dass die Kulturverhältnisse zu einer Erziehung durch Menschen nötigen. So begnügt er sich denn, seinen Emil und seine Sophie zu möglichst natürlichen, nach den Grundsätzen der Natur und Vernunft erzogenen Wesen werden zu lassen. Mit der Kirche stieß er freilich durch die Betonung der natürlichen Gutheit des Menschen und die Ablehnung früher religiöser Einwirkung auf die Kindesseele zusammen. Im übrigen war der Einfluß des Buches ein ungeheurer, er reicht noch bis in unsere Zeit. Manche seiner Mängel, wie die untergeordnete geistige Stellung der Frau und vor allem die Privaterziehung, lassen sich zum Teil durch die Zeitverhältnisse erklären, andere durch die im vorigen geschilderte Eigenart des Verfassers.

Der Kern echter Bildung ist echte Religion. Daher enthält die pädagogische Hauptschrift Rousseaus zugleich auch sein religiöses Bekenntnis: das berühmte Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars. Dass er es ihn auf einem Berge, im Angesichte der herrlichen Alpenwelt verkünden läßt, ist für Rousseau bezeichnend. Seine Religion ist eben vor allem Naturund Gefühlsreligion, auf das unverdorbene natürliche Gefühl des Menschen sich gründend, ihr Gipfel stumme Bewunderung des Alls und zugleich innigste Entfaltung des Lebens- und Hingebungsdranges. Sie ist etwas von der Erkenntnis Grundverschiedenes: »Ich sehe Gott in seinen Werken, fühle ihn in mir und über mir, aber ich kann das Geheimnis seines Wesens nicht erkennen.« Anderseits streitet die natürliche Religion jedoch auch nicht gegen die Vernunft; vielmehr sucht Rousseau ihre Vernunftmäßigkeit gegen die Materialisten zu beweisen. Ihnen gegenüber weist er die Zusammenstellung des Menschen mit den Tieren ab, verteidigt er die Freiheit des Willens, die Geistigkeit und die auch von unserem Gerechtigkeitssinn geforderte Unsterblichkeit der Seele. Woher stammen Bewegung, Zusammenhang, Seelenleben? Nur aus dem schaffenden Willen. Wenn auch die Empfindung rein passiv ist, die Wahrnehmung allein aus den Sinnen entspringt, so kann doch das Vergleichen und Urteilen nur aus uns selbst stammen. Es gibt zwei Prinzipien: Materie und Geist (Gott). Das ist zugleich das Wenige, was sich von allgemein-philosophischen und erkenntnistheoretischen Betrachtungen bei Rousseau findet. Der letzte Maßstab ist ihm auch hier nicht die Vernunft, sondern das innere Gefühl. Die andere, wenn auch weniger stark hervortretende, Seite seiner natürlichen Religion ist gegen die Offenbarungsgläubigen gerichtet. Eine übermenschliche Offenbarung ist für uns nicht notwendig. Das wahre Christentum besteht in dem uns von Gott selbst unmittelbar eingepflanzten religiösen Gefühl; nicht auf geschriebenen Blättern, sondern in unserem Herzen müssen wir das Gesetz Gottes suchen. Rousseau verteidigte seine Lehre gegen die orthodoxen Angriffe in einem offenen Brief an den Erzbischof von Paris (1762) und gegen einen Genfer Staatsanwalt in den glänzenden Lettres de la montagne (Amsterdam 1764).


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