3. Popularphilosophie


Neben solchen selbständigeren Ansätzen geht der breite Strom der Popularphilosophie einher. Die Wolffsche Schule hatte sich durch ihre Pedanterie und Rubrizierungswut, um mit Goethe zu reden, »ungenießbar und endlich entbehrlich« gemacht und räumte der Philosophie »des gesunden Menschenverstandes« den Platz, die durch die gleichzeitigen Strömungen in England (Schottland) und Frankreich Anregung und Unterstützung erhielt. Da wir keine allgemeine Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland zu schreiben haben, genügt es, von diesen Vertretern der deutschen Aufklärung einige Richtungen und Männer kurz zu charakterisieren.

a) Die platt-teleologische Betrachtung der Natur nimmt überhand, und im Zusammenhang damit die Betonung von Gottes Güte und Weisheit, die sich auf die kleinsten Dinge erstreckt, z.B. dass er die erquickenden Kirschen in der Hitze des Sommers, nicht in der kalten Winterszeit habe reifen lassen (Sulzer). Die physikotheologische Denkweise versteigt sich zu der Geschmacklosigkeit, von Stein-, Pflanzen-, Fisch -, Insekten- u. a. Theologien zu reden ! Damit verbinden sich die verschiedensten theologischen Standpunkte, von offenbarungsgläubiger Orthodoxie bis zu dem Naturalismus eines Dr. Bahrdt. Neben dem Dasein Gottes ist die persönliche Unsterblichkeit, genauer unsere endlose Vervollkommnung im Jenseits der wichtigste Glaubensartikel der deutschen Aufklärung. Die Beförderung der menschlichen Glückseligkeit ist alleiniger Zweck und Aufgabe der Philosophie, die damit zur schalen Moralpredigt herabsinkt. Daneben wird die empirische Psychologie ein Lieblingsfeld derer, die sich von der französischen und englischen (besonders Lockes) Erfahrungsphilosophie angezogen fühlen. Es ist die klassische Zeit der Empfindsamkeit, des Wühlens in den Seelenzuständen, der Selbstbeobachtungen und Selbstbekenntnisse der Tagebücher, der zärtlichen Freundschaften, der Gefühlsseligkeit.

Für die Wissenschaft fällt dabei naturgemäß sehr wenig ab. Sulzer (1720-1779, aus Zürich, früh nach Berlin) suchte die Lehre vom Gefühl und den Empfindungen, die er aus Leibniz' dunklen Vorstellungen herleitete, weiter auszubilden. Er unterscheidet die ästhetischen von den sinnlichen, intellektuellen und moralischen Empfindungen. Dennoch werden sie noch nicht in ihrer Selbständigkeit erkannt, seine Ästhetik bleibt teils verstandesmäßig teils moralisierend. Der Geschmack ist »eine notwendige Folge von Erkenntnis und Einsicht«; daher werden die Zeitgenossen Bodmer und Pope über Homer und Lukrez gestellt!

Anderseits hat die Kunst, wie alle Philosophie, dem höheren Zwecke der menschlichen Glückseligkeit zu dienen. Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste (1771-74) galt lange Zeit als ästhetische Autorität, die sich bei den »Schweizern« wie den Gottschedianern gleicher Beliebtheit erfreute.

An die französischen und englischen Vorbilder reichen die meisten der deutschen Aufklärer nicht heran. Neben feineren Naturen wie dem geistreichen Physiker Lichtenberg in Göttingen, dem zur Skepsis neigenden und auch als Ästhetiker nicht unwichtigen Leibnizianer Platner (Hauptschrift: Philosophische Aphorismen 1776 ff.) in Leipzig, dem Philosophiehistoriker Tiedemann in Marburg, dem sinnigen Menschenbeobachter Garve in Leipzig stehen philosophisch so oberflächliche Naturen wie der Dichter Wieland, der »Philosoph für die Welt« Engel, die vermittlungseligen Eklektiker und Vielschreiber Feder und Meiners in Göttingen und, um von den dii minorum gentium zu schweigen, das bekannte Muster aufklärerischer Seichtigkeit und Plattheit, der Berliner Buchhändler Nicolai, dessen verdienstlicher Kampf gegen Vorurteile aller Art, namentlich in seiner Allgemeinen deutschen Bibliothek (1765-1805), darüber jedoch nicht vergessen werden darf. Ebenso hat Basedow, dessen Praktische Philosophie das trivialste Zeug enthält, wenigstens einen kräftigen Anstoß zur Reform des Unterrichts in Deutschland gegeben.

b) Ernsteren Charakter trägt der Wolff näher stehende theologische Rationalismus der Zeit, der sich in Männern wie Spalding, Semler, dem Begründer der historischen Bibelkritik, und besonders H. S. Reimarus (Gymnasialprofessor in Hamburg, 1694-1768) zu achtungswerten Gestalten erhob. Reimarus, ein ehrlicher und folgerichtiger Denker, verteidigt zwar gegen den Materialismus (La Mettrie) und Pantheismus (Spinoza) die Grundsätze der natürlichen Religion (Gott und Unsterblichkeit), bekämpft aber um so entschiedener den Glauben an übernatürliche Offenbarungen, und deshalb auch die biblischen Lehren, die ihm als ein Gemisch von Irrtum und Betrug erscheinen. Seine in diesem Sinne gehaltene, umfangreiche Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes konnte er unter solchen Umständen nicht herauszugeben wagen. Erst nach seinem Tode veröffentlichte Lessing eine Reihe Untersuchungen daraus, die als Wolffenbüttler Fragmente so großes Aufsehen erregten, und erst D. F. Strauß hat in seinem Buche über Reimarus (1862) eine ausführliche Zergliederung der gesamten Schrift gegeben.

c) Die edleren Züge der Aufklärung vereinigt in sich Moses Mendelssohn (1729-1786), Sohn eines armen jüdischen Lehrers aus Dessau, der früh nach Berlin kam, sich unter den größten Schwierigkeiten und Entbehrungen seine wissenschaftliche Bildung erwarb und auch als berühmter Schriftsteller seine kaufmännische Stellung beibehielt. Klarheit des Stils, warme Empfindung, reine Humanität zeichnen ihn aus, dagegen fehlt philosophische Kraft und Tiefe. Extreme sind ihm verhaßt, die Wahrheit liegt in der Mitte, wie er selbst auch in der Mitte zwischen Wolff und Locke, Schul- und Popularphilosophie steht; außerdem hat namentlich Shaftesbury auf ihn gewirkt. Auch seine Hauptdogmen sind die Unsterblichkeit der Seele, die er in seinem Phädon (1767) durch einen ganz unhistorischen Sokrates verkünden läßt, und das Dasein eines persönlichen Gottes, das er in seinen Morgenstunden (1785) unumstößlich bewiesen zu haben meinte. Natur- und Geschichtsforschung liegen ihm gänzlich fern. Die Philosophie soll auch nach ihm nur das behandeln, was auf die Glückseligkeit der Menschen Bezug hat. Lust und Unlust hat Mendelssohn zuerst als »Empfindungen« bezeichnet (1755) und dafür ein besonderes Vermögen des »Gefühls« angenommen, das er später »Billigungsvermögen« nannte. Als die Kritik des »alles zermalmenden« Kant erschienen war, fühlte der bescheidene Mann, der 1763 noch mit seiner Preisschrift über die Evidenz in der Metaphysik den Sieg über seinen Mitbewerber Kant davongetragen hatte, selbst, dass seine und seiner Gesinnungsgenossen Rolle in der Geschichte der Philosophie ausgespielt sei.

d) Ungleich selbständiger und bedeutender als seine Berliner Freunde Nicolai und Mendelssohn, bedeutender auch als der »Philosoph von Sanssouci«, Friedrich II., nach dem man wohl das ganze Zeitalter der Aufklärung benannt hat, und der doch philosophisch über seine französischen Vorbilder (Voltaire, d'Alembert) nicht hinausgekommen ist, ist der Neubegründer unserer klassischen Literatur, G. E. Lessing (1729-1781). Zwar wurzelt auch seine Bildung in der Aufklärung, aber seine tiefere Natur führt ihn an verschiedenen Punkten über dieselbe hinaus. Einmal, in der historischeren Auffassung der Dinge, die ihn in der Erziehung des Menschengeschlechtes die Umrisse einer den Entwicklungsgedanken vertretenden Geschichtsphilosophie entwerfen läßt, von ihm allerdings nur auf das religiöse Gebiet angewandt. Alttestamentliches Judentum und neutestamentliches Christentum sind bloße Entwicklungsstufen in dem göttlichen Erziehungsplan der Menschheit. Freilich auf die Historie selbst können sich Religion und Philosophie nicht gründen. »Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden.« Das Ziel der Entwicklung ist auch ihm die natürliche Religion, das »Christentum der Vernunft«, das jedoch dem »vernünftigen Christentum« seiner Zeit nicht gleichgesetzt werden will, und dessen Kern »das Testament Johannis«, - die Liebe ist. Einzelne Dogmen, wie Dreieinigkeit und Erbsünde, sucht er philosophisch auszulegen. Philosophisch steht er wohl Leibniz am nächsten, dessen Nouveaux essais er auch übersetzen wollte. Wie weit die von Jacobi für Lessings letzte Zeit behauptete Übereinstimmung mit Spinoza gegangen sei, läßt sich nicht mit Sicherheit feststellen; wir werden auf den daraus entstandenen literarischen Streit, der Mendelssohns letzte Tage verbitterte, bei Jacobi (s. § 45) zurückkommen. Das wesentlichste aber von Lessings Verdiensten ist sein kritischer Standpunkt. Der Mann, der das Suchen nach der Wahrheit höher stellte als den vermeintlichen Besitz derselben, war freilich nicht zum Systematiker geschaffen, konnte sich aber auch nicht bei der selbstgefälligen Weisheit der deutschen Durchschnittsaufklärer beruhigen. Seine Größe als Schriftsteller und ästhetischer Kritiker zu würdigen, ist hier nicht des Orts; auch sein Kampf gegen die Orthodoxie enthält kaum philosophische Momente im engeren Sinne. Seine philosophische Bedeutung beruht allerdings mehr in seinen allgemeinen Tendenzen als in einzelnen Leistungen; vor allem in der Sorgfalt, mit der er auf reinliche Scheidung der Begriffe und Gebiete der Erkenntnis drang. Hierin, wie in seiner Religionsauffassung, hat er einem Größeren vorgearbeitet. Im Todesjahr Lessings erscheint Kants Kritik der reinen Vernunft.


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