1. Vorläufer Wolffs: Pufendorf, Tschirnhaus, Thomasius


a) Noch in Leibniz' Zeit fällt die Wirksamkeit des berühmten Natur- und Völkerrechtslehrers Samuel Pufendorf (1632-1694) aus Chemnitz. Wir haben es hier nicht mit seiner glänzenden Kritik der Zustände des Deutschen Reiches (De statu imperii Germanin, 1661) noch mit seinen Geschichtswerken, sondern mit seiner philosophischen Bedeutung zu tun. Diese ist weniger in dem Inhalt seines rechtsphilosophischen Hauptwerks De iure naturae et gentium (1672) oder der kleineren Schrift De officio hominis et civis iusta legem naturalem (1673) zu erblicken, worin er von seinen Vorgängern Grotius und Hobbes vielfach abhängig ist, als in der Methode. Einmal nämlich wendet er, ganz im Geist des »mathematischen« Jahrhunderts, ähnlich dem mit ihm im gleichen Jahre geborenen, sonst von ihm befehdeten Spinoza, die geometrische Methode an, um aus der Verbindung des Hobbesschen Selbsterhaltungstriebes mit dem Geselligkeitssinn des Grotius in logischen Schlußfolgerungen das ganze System des Naturrechts abzuleiten. Dann aber - und das ist wichtiger und macht ihn zum Aufklärer - löst er, als der erste deutsche Gelehrte, die Philosophie grundsätzlich von der Theologie. Zwar sieht auch er den Ursprung des natürlichen Rechtes und des natürlichen Sittengesetzes in Gott, aber die Erkenntnis beider ist ihm, wie das freie vernunftmäßige Denken überhaupt, unabhängig vom Offenbarungsglauben. Die Philosophie mit dem Maßstabe des letzteren messen, heißt nicht philosophieren, sondern theologisieren. Das Naturrecht soll für Juden und Türken die nämliche Gültigkeit haben, wie für Christen. Natürlich geriet er mit den rechtgläubigen Theologen und scholastischen Universitätsgelehrten alsbald in den heftigsten Streit.

b) Der geometrischen Methode huldigt auch Walter Graf von Tschirnhaus (1651-1708), der gemeinsame Freund von Huyghens, Spinoza und Leibniz, eine vornehme, wissenschaftlich - exklusive Natur, der in seiner Medicina mentis (1687) eine Theorie des gesamten Erfahrungswissens zu geben suchte, dabei Hobbes' und Spinozas Lehre von der genetischen Definition oder begrifflichen Erzeugung der Einzeldinge weiterbildend. Theorie und Erfahrung, Deduktion und Induktion bedürfen und ergänzen sich gegenseitig. Aber, indem er alles Denkbare in drei Klassen: 1. die sinnlich-anschaulichen, 2. die rationalen oder mathematischen und 3. die physischen oder realen Dinge zerlegt, gerät er in einen Zwiespalt von Vernunftdenken und Erfahrung, den er weder durch sein Axiom der durchgängigen Gleichartigkeit der Vernunft noch durch sein Kriterium der allgemeinen Mitteilbarkeit zu lösen vermag. Inbegriff und Abschluß aller echten Erkenntnis ist ihm die Physik, die uns in ihren Gesetzen zugleich Gottes Wirken am deutlichsten enthüllt. Die praktische Philosophie hat er, im Gegensatz zu seinem Landsmann Pufendorf, nicht bearbeitet. Vgl. über ihn Verweyen, Tschirnhaus als Philosoph, Bonn 1906.

c) Unter dem Einflusse Pufendorfs löste sich auch Christian Thomasius (eigentlich Thomas, 1655 -1728), gleich Leibniz Leipziger Professorensohn, völlig von der Theologie und der üblichen Scholastik der Universitäten los. »Die Theologie ist aus der Schrift, die Philosophie aus der Vernunft herzuleiten«; jene bezweckt das himmlische, diese das irdische Wohl der Menschheit. Gegen alle Pedanterie und Schulgelehrsamkeit zu Felde ziehend, lädt er, auf das Vorbild der großen französischen Denker hinweisend, zum erstenmal in der Muttersprache zu seinen Vorlesungen ein und gibt die erste wissenschaftliche Zeitschrift in deutscher Sprache heraus (1688). Infolge dieser und anderer Neuerungen auf Betreiben des Leipziger und Wittenberger Zopfgelehrtentums aus seiner Vaterstadt vertrieben, erhielt er von Friedrich III. von Brandenburg (1690) die Erlaubnis, in Halle Vorlesungen zu halten: der Anfang zur Begründung der dortigen, in gewissem Sinne ersten modernen Universität (1694). Anfangs hielt er gegenüber der starren Rechtgläubigkeit mit seinen pietistischen Kollegen Spener und Francke zusammen (Geschichte der Weisheit und Torheit 1693, Versuch vom Wesen des Geistes 1699); später trennte ihn sein durch die Lektüre Lockes befestigter Rationalismus endgültig von ihnen.

Thomasius' Verdienst liegt in dem eben bezeichneten Kampfe gegen alle Beschränktheit und Pedanterie, für Aufklärung und Toleranz (wenn auch in bedingtem Sinne, die Autorität der Bibel z.B. hat er nicht angefochten), gegen Übergriffe der Kirche (fürstlicher Willkür gegenüber zeigte er zweimal eine nicht unbedenkliche Nachgiebigkeit), gegen Tortur und Hexenverfolgung. Wissenschaftlich dagegen ist er ohne Originalität und Methode, ja von entschiedener Oberflächlichkeit. Sein Standpunkt ist der des handgreiflichen allgemeinen Nutzens, die Metaphysik ihm aufs äußerste verhaßt; seine Philosophie des gesunden Menschenverstandes ist noch flacher als die schottische. Seine Vernunftlehre will »durch eine leichte und allen vernünftigen Menschen, welcherlei Standes und Geschlechtes sie seien, verständliche Manier« den Weg zeigen, »ohne die Syllogistica das Wahre, Wahrscheinliche und Falsche voneinander zu unterscheiden und neue Wahrheiten zu erfinden« Seine Sittenlehre bezeichnet er als die Kunst, »durch Vernunft und Tugend zu einem glückseligen, galanten und vergnügten Leben zu gelangen«.

Thomasius' Popularphilosophie, mit Leibnizschen Gedanken und schulmäßiger Behandlung vereint, findet sich in der Hauptgestalt der Epoche: Christian Wolff.


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