1. Deisten und Freidenker.*)
(Cherbury, Toland, Collins)


a) Einen Vorläufer besitzt der an Locke anknüpfende englische Deismus oder die »natürliche Religion« schon in Lord Herbert von Cherbury (1582-1648), der in seinen beiden Werken De veritate (Paris 1624) und De religione gentilium (London 1645, vollständig Amsterdam 1663) dem kirchlichen Autoritätsglauben die allen Menschen gemeinsame Vernunft und die sich darauf gründende natürliche Religion entgegenstellt. Das erstgenannte Buch will die Wahrheit von dem bloß Wahrscheinlichen, Möglichen und Falschen, sowie von der - Offenbarung unterscheiden; ihre höchste Norm sind die an die Stoiker (I, S. 150 ff.) erinnernden, unmittelbar einleuchtenden »Gemeinbegriffe« (notitiae communes). Der Trieb zur Erkenntnis, zum Guten und zu Gott beruhe auf einem uns allen von Anfang an gemeinsamen natürlichen Instinkte. Die fünf Glaubensartikel der natürlichen Religion lauten: 1. Es gibt ein höchstes Wesen. 2. Dasselbe soll angebetet werden. 3. Den wichtigsten Teil dieser Verehrung bildet Tugend, verbunden mit Frömmigkeit. 4. Der Mensch muß seine Sünden bereuen und von ihnen lassen. 5. Gutes und Böses wird in diesem und in jenem Leben belohnt und bestraft. Was über diese fünf Sätze hinausgeht, ist Erfindung herrschsüchtiger Priester und der wahren Gottesverehrung nicht dienlich.

b) Durchaus Lockeschen Einfluß verrät das 1696 zuerst erschienene Grundbuch des englischen Deismus: Das Christentum ohne Geheimnisse (Christianity not mysterious, verdeutscht von Zscharnack, 1909) von John Toland (1670 bis 1722). Der in Irland geborene und katholisch erzogene, aber bereits mit sechzehn Jahren zum Protestantismus übergetretene Verfasser sucht im Geiste Lockes zu beweisen, dass im ursprünglichen Christentum nichts wider und nichts über die Vernunft sei. Die übervernünftigen »Geheimnisse« seien aus Juden- und Heidentum übernommene Gebräuche, die erst von den Kirchenvätern zu sogenannten »Sakramenten« gestempelt worden seien. Trotzdem Toland in dieser Schrift Offenbarung und Wunder noch nicht antastete - die letzteren sah er als eine göttliche Steigerung der Naturgesetze über ihre gewöhnlichen Wirkungen hinaus an -, erfuhr er doch heftige Angriffe und Verfolgungen, sodass er sich einige Jahre hindurch mehr auf politische Schriftstellerei (Verteidigung der protestantischen Erbfolge des Hauses Hannover) warf. Von einer pantheistischen Wendung seines Denkens - auch der Ausdruck »Pantheist« scheint von ihm herzurühren - zeugen seine Briefe an Serena (die preußische Königin Sophie Charlotte, Leibniz' Freundin) 1704. Hier ist der Glaube an die Offenbarung, an einen persönlichen, außerweltlichen Gott und an die persönliche Unsterblichkeit bereits aufgegeben. Gott existiert nur in der Welt; er ist das dem All innewohnende Leben. An Spinoza tadelt der englische Freidenker die starre Unbeweglichkeit seiner Substanz. Alles, auch das scheinbar Ruhigste, ist vielmehr in stetem Wechsel begriffen; das Denken ist eine Funktion des Gehirns, an die von Gott gelenkte Materie gebunden. In seinem anonym »zu Kosmopolis« (1720) erschienenen Pantheistikon entwirft er in diesem Geiste eine Religion der Zukunft und zugleich eine Art Liturgie für deren Bekenner (vgl. den von Hettner I, 164-168 gegebenen Auszug aus der jetzt sehr selten gewordenen Schrift).

c) Die ausdrückliche Selbstbezeichnung als »Freidenker« kommt literarisch zuerst wohl in dem Titel von Anthony Collins' (1676-1729) Abhandlung über das Frei-Denken (1713) vor. Collins nimmt, über Locke hinausgehend, das freie, nur sich selbst verantwortliche Denken als unveräußerliches Recht der Vernunft in Anspruch und wendet es auf die Bibel und die Gotteserkenntnis an. Ähnlich Lyons in seiner gleichzeitig erschienenen Schrift: Die Untrüglichkeit der menschlichen Vernunft. Als Anhänger des »Vernunftglaubens« und der natürlichen Religion, die sie jedoch mit dem Christentum vereinigen wollen, bezeichnen sich auch Tindal (Das Christentum so alt wie die Schöpfung 1730) Morgan (Der Moralphilosoph 1737) und Chubb, ein schlichter Handwerker, von seiner ersten Schrift: Die Grundfrage der Religion, 1725 an bis zu der letzten: Das wahre Evangelium Jesu Christi, 1738. Gemeinsam ist allen diesen Schriften, neben der rein-moralischen und rationalistischen Tendenz, die unhistorische Auffassung des Christentums, sowie ein von der Renaissance übernommener und auf den größten Teil der französischen Aufklärer vererbter aristokratischer Zug: die Vernunftreligion für die Gebildeten, die positive Kirchenlehre für die Masse! Ein Gedanke, dem Bolingbroke (1698-1751) in zynischer Weise also Ausdruck gab: In den Salons darf man die ungereimten kirchlichen Vorstellungen belächeln, im öffentlichen Leben sind sie unentbehrlich, denn sie erzeugen den Gehorsam der Menge; und die Freidenker tun übel daran, ein Gebiß aus deren Maul herauszunehmen, statt ihr noch mehr anzulegen.

 

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*) Deisten, ursprünglich die Bezeichnung für Gottesgläubige überhaupt (Gegensatz Atheisten), wurde um 1700 zur Bezeichnung für die, welche Gott zwar als Weltschöpfer, aber nicht als Weltregierer (Vorsehung) anerkannten (Gegensatz Theisten).


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