17. Sittenlehre


In jenem Teil der Philosophie, welcher von der Tugend und den Sitten handelt, stimmen ihre Ansichten und Vernunftgründe mit den unseren überein. Streitig ist ihnen die Frage über die Güter der Seele und des Leibes und die Glücksgüter, ob allen diesen, oder nur den seelischen Gaben der Name »Gut« zukomme. Sie erörtern das Wesen der Jugend und des Vergnügens, aber die erste und Hauptfrage ist, worin, ob in einem Dinge oder in mehreren, die Glückseligkeit der Menschen bestehe.

In dieser Beziehung schlagen sie sich wohl allzusehr auf Seiten derjenigen Partei, welche das menschliche Glück entweder überhaupt oder doch den wesentlichsten Teil desselben im Vergnügen sieht.

Und worüber Du Dich noch mehr wundern wirst — die Bekräftigung dieser ihrer etwas epikuräischen, weichlichen Ansicht suchen sie in ihrer doch ernsten und strengen, beinahe düstern, überstrengen Religion!

Denn sie disputieren nie über die Glückseligkeit, ohne dass sie einige aus der Religion genommene Grundsätze mit der Philosophie, die sich der Gründe bedient, verbinden, denn die Vernunft an sich halten sie, ohne diese Grundsätze für unzureichend und zu blöde, das Wesen der wahren Glückseligkeit zu ergründen.

Diese Axiome sind folgende:

Die Seele ist unsterblich und durch Gottes unendliche Güte zur Glückseligkeit geschaffen; unserer Tugenden und guten Taten harren Belohnungen nach diesem Leben, der Missetaten aber Strafen.

Wenn diese Axiome auch der Religion angehören, so glauben die Utopier doch, dass die Vernunft allein dazu führe, sie zu glauben und zu billigen. Wenn aber diese Axiome aufgehoben würden, so nimmt kein Utopier den geringsten Anstand, zu erklären, dass wohl niemand so dumm sei, das Vergnügen nicht um jeden Preis zu erstreben, und dass man sich nur in Acht nehmen müsse, dass ein geringeres Vergnügen nicht einem größeren hindernd im Wege stehe, oder dass man keinem Vergnügen nachhänge, welches den Schmerz im Gefolge hat. Denn den schwierigen und steilen Pfad der Tugend zu erklimmen, und nicht nur den Annehmlichkeiten des Lebens zu entsagen, sondern freiwillig Schmerzen auf sich zu nehmen, wovon man nicht den geringsten Vorteil zu erwarten hat (denn welches sollte der Vorteil sein, wenn nach dem Tode nichts zu erlangen ist und man sein Leben hiernieden in Mühsal und Elend zugebracht hat?) — das halten sie allerdings für den Gipfelpunkt der Torheit.


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