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Gerecht sein wollen und Richter sein wollen

33.

Gerecht sein wollen und Richter sein wollen. — Schopenhauer, dessen große Kennerschaft für Menschliches und Allzumenschliches, dessen ursprünglicher Tatsachen-Sinn nicht wenig durch das bunte Leoparden-Fell seiner Metaphysik beeinträchtigt worden ist (welches man ihm erst abziehen muss, um ein wirkliches Moralisten-Genie darunter zu entdecken) — Schopenhauer macht jene treffliche Untterscheidung, mit der er viel mehr recht behalten wird, als er sich selber eigentlich zugestehen durfte: „die Einsicht in die strenge Notwendigkeit der menschlichen Handlungen ist die Grenzlinie, welche die philosophischen Köpfe von den andern scheidet“. Dieser mächtigen Einsicht, welcher er zuzeiten offen stand, wirkte er bei sich selber durch jenes Vorurteil entgegen, welches er mit den moralischen Menschen (nicht mit den Moralisten) noch gemein hatte und das er ganz harmlos und gläubig so ausspricht: „der letzte und wahre Aufschluss über das innere Wesen des Ganzen der Dinge muss notwendig eng zusammenhängen mit dem über die ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns“ — was eben durchaus nicht „notwendig“ ist, vielmehr durch jenen Satz von der strengen Notwendigkeit der menschlichen Handlungen, das heißt der unbedingten Willens-Unfreiheit und -Unverantwortlichkeit, eben abgelehnt wird. Die philosophischen Köpfe werden sich also von den andern durch den Unglauben an die metaphysische Bedeutsamkeit der Moral unterscheiden: und das dürfte eine Kluft zwischen sie legen, von deren Tiefe und Unüberbrückbarkeit die so beklagte Kluft zwischen „Gebildet“ und „Ungebildet“, wie sie jetzt existiert, kaum einen Begriff gibt. Freilich muss noch manche Hintertüre, welche sich die „philosophischen Köpfe“, gleich Schopenhauern selbst, gelassen haben, als nutzlos erkannt werden: keine führt ins Freie, in die Luft des freien Willens; jede, durch welche man bisher geschlüpft ist, zeigte dahinter wieder die ehern blinkende Mauer des Fatums: wir sind im Gefängnis, frei können wir uns nur träumen, nicht machen. Dass dieser Erkenntnis nicht lange mehr widerstrebt werden kann, das zeigen die verzweifelten und unglaublichen Stellungen und Verzerrungen derer an, welche gegen sie andringen, mit ihr noch den Ringkampf fortsetzen. — So ungefähr geht es bei ihnen jetzt zu: „also kein Mensch verantwortlich? Und alles voll Schuld und Schuldgefühl? Aber irgendwer muss doch der Sünder sein: ist es unmöglich und nicht mehr erlaubt, den einzelnen, die arme Welle im notwendigen Wellenspiele des Werdens anzuklagen und zu richten — nun denn: so sei das Wellenspiel selbsst, das Werden, der Sünder: hier ist der freie Wille, hier darf angeklagt, verurteilt, gebüsst und gesühnt werden: so sei Gott der Sünder und der Mensch sein Erlöser: so sei die Weltgeschichte Schuld, Selbstverurteilung und Selbstmord; so werde der Missetäter zum eigenen Richter, der Richter zum eigenen Henker“. — Dieses auf den Kopf gestellte Christentum — was ist es denn sonst? — ist der letztte Fechter-Ausfall im Kampfe der Lehre von der unbedingten Moralität mit der von der unbedingten Unfreiheit — ein schauerliches Ding, wenn es mehr wäre als eine logische Grimasse, mehr als eine hässliche Gebärde des unterliegenden Gedankens — etwa der Todeskrampf des verzweifelnden und heilsüchtigen Herzens, dem der Wahnsinn zuflüstert: „Siehe, du bist das Lamm, das Gottes Sünde trägt“. — Der Irrtum steckt nicht nur im Gefühle „ich bin verantwortlich“, sondern ebenso in jenem Gegensatze „ich bin es nicht, aber irgendwer muss es doch sein“. — Dies ist eben nicht wahr: der Philosoph hat also zu sagen, wie Christus, „richtet nicht!“, und der letzte Unterschied zwischen den philosophischen Köpfen und den andern wäre der, dass die ersten gerecht sein wollen, die andern Richter sein wollen.