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Zeitloses Präsens

Und selbst diese neunfache Unbestimmtheit der Hauptform des Verbums, des Präsens, erschöpft die Unsicherheiten noch nicht. Es ist nicht wahr, dass das Präsens (außer den Fällen, wo es eine andere Zeit bedeutet) immer etwas Gegenwärtiges bezeichne. Die unendliche Menge solcher Sätze wie: "Der Hund ist ein Säugetier, Zeit ist Geld" haben durchaus nichts mit dem Zeitverhältnis des Redenden zu tun. Es ist eine ganz falsche, unserem Sprachgefühl widersprechende Konstruktion, wenn man sagt, solche Sätze gelten immer und für alle Zeit, also auch für die Gegenwart. Solche Sätze, ob sie nun konkrete oder abstrakte Urteile aussprechen, lassen uns durchaus keine Beziehung zur Zeit mitdenken, sie sind zeitlos. Der Unterschied des Sinns wird deutlich, wenn wir die gelegentliche Anwendung von der allgemeinen trennen. Wenn wir im Gegensatz zum Dunkel der Nacht oder zum schlechten Wetter von vorhin sagen: "Die Sonne leuchtet", so ist das eine Gegenwart, weil wir ausdrücklich mitteilen wollen, dass sie jetzt leuchte; wenn wir nur eine Eigenschaft der Sonne angebend (unser Sprachgefühl sträubt sich gar nicht, das Verbum eine Eigenschaft zu nennen) sagen: "Die Sonne leuchtet", so ist das keine Gegenwart, sondern Zeitlosigkeit. Der Satz hat keine Beziehung zur Zeit. "Der Wein erfreut des Menschen Herz"; wir wollen nicht sagen, er erfreue immer, also auch in der Gegenwart, sondern: es sei eine zeitlose Eigenschaft des Weines zu erfreuen. "Die Sonne leuchtet" hat für unser ehrliches Sprachgefühl nicht im geringsten mehr Zeitbestimmung oder Zeitverhältnis als: die leuchtende Sonne, als "Sonne" (ohne Epitheton ornans), aber auch nicht mehr als: der weiße Schnee, der blaue Himmel usw.; "der Wein erfreut" hat nicht mehr Verhältnis zur Zeit als "der süße Wein". Wir sehen: die Zeitkategorie, deren Künstlichkeit ein aufmerksames Ohr in den anderen Zeitformen noch heute empfindet, muß sogar zum Präsens erst verhältnismäßig spät hinzugekommen sein; als das Verbum und das Adjektiv noch undifferenzierte Bedeutung hatten, da war das Verbum noch kein Zeitwort.

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