Kategorien subjektiv
Der Mensch steht in der Welt als ein Zuschauer, wie im Theater. Und wie es eine besondere Optik des Theaters gibt, durch welche uns die Bühne erst die schöne Illusion gewährt, so gibt es für die Welterkenntnis eine Optik des Geistes, der wir die Illusion einer Erkenntnis verdanken. Das Denken ist das Illusionsinstrument des Menschen.
Schon beim Bilden der einfachsten Begriffe, das heißt beim Vergleichen der Dinge wirkt das subjektive Interesse mit, sei es das Interesse des Einzelnen, sei es das gleiche Interesse der Menschen. Es kann gar kein Zweifel daran sein, dass interessierende, nützliche oder schädliche Tierarten früher benannt wurden als gleichgültige. Eine Unzahl gleichgültiger Tierarten hat in der lebendigen Sprache noch heute keinen Artnamen, wenn dieser auch in der wissenschaftlichen Terminologie scheinbar existiert. Noch stärker äußert sich das subjektive Moment des Interesses bei den obersten Artnamen oder Kategorien. Die Optik des Geistes hat freilich die Illusion hervorgerufen, als ob die allgemeinen Kategorien der Grammatik oder Logik, wie diese bei uns historisch geworden ist, der Wirklichkeitswelt entsprechen. Wir glauben in der Wirklichkeitswelt das zu sehen, was wir in unseren Eigenschaften und ihren Steigerungen, in unseren Verben und ihren Zeitformen, in unseren Hauptworten und ihren Zahlformen sprachlich besitzen.
Vor Ausbildung dieser jüngeren Kategorien besaß die Sprache oder das Denken jedenfalls andere. Für das Eigenschaftswort ist es charakteristisch, dass das meist gebrauchte (gut, besser) immer noch keine regelrechte sprachliche Steigerung besitzt; ebenso hat das meist gebrauchte Verbum (sein, bin, war) keine "regelmäßige" sprachliche Konjugation. Das ist ganz auffällig so auch in anderen Sprachen. Es scheinen Beste aus einer Zeit zu sein, in welcher die Kategorien der Steigerung und der Zeit noch nicht vorhanden waren.
Dagegen müssen in sehr alter Zeit Kategorien vorhanden gewesen sein, die in dieser Art heute nicht mehr gewürdigt werden. Als noch die Welterkenntnis auf den Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde beruhte, konnte der Gegensatz von naß und trocken so tiefdeutig erscheinen wie heute der Gegensatz von Geist und Körper. Irgend einer Weltanschauung, die auf dem Gegensatz der Geschlechter beruhte, mag der sprachliche Unterschied von männlich und weiblich entstammen, der heute noch unsere Sprachen beschwert. Noch weiter zurückgehen mag der Gegensatz des Eßbaren und des Ungenießbaren, zweier Kategorien des Naturmenschen, die in der Sprache heute noch z. B. bei der Einteilung der Pilze fortleben. Unsere stolze Wissenschaftlichkeit glaubt dieses subjektive Moment in der Kategorienbildung überwunden zu haben; aber hinter den höchsten Einteilungsgründen jedes Weltkatalogs, auch des neuesten, steckt irgend der alte Gegensatz zwischen dem Eßbaren und dem Ungenießbaren. Das Interesse lenkt die Aufmerksamkeit, die Aufmerksamkeit schafft sich die Erinnerung, die Erinnerung wird zur Sprache.
Es ist gar nicht merkwürdig, dass die allgemeinsten Begriffe, die in der sogenannten Logik aus der jeweiligen Welterkenntnis abstrahiert worden sind, sich in der Grammatik als Beziehungsformen der Sprache wiederfinden. Es gibt nämlich gar nichts Allgemeineres und in der Sprache häufiger Auszudrückendes als diese Beziehungen z. B. auf Zahl, Zeit und Ort. Ein Mensch kann in seinem Leben noch so viele Hunde bemerken und Anlaß finden davon zu sprechen, er wird dennoch den Begriff Mehrzahl oder den Begriff Vergangenheit in unendlich häufigeren Fällen anzuwenden haben. Darum konnte das Lautzeichen für Hund spezifiziert bleiben, während die Lautzeichen für Mehrzahl oder Vergangenheit zu grammatischen Kategorien wurden. Die lebendigen Sprachen haben diese Lautzeichen z. B. für Mehrzahl oder Vergangenheit nicht einfach genug; die Verschiedenheiten der Deklinationen und Konjugationen, die beim Erlernen einer fremden Sprache solche Schwierigkeiten machen, sind ganz gewiß unverständliche Überreste aus Zeiten, in welchen nach der damaligen Weltanschauung handgreiflichere Kategorien wichtiger erschienen als die der Zahl und der Zeit.