Genitiv
Es ist vergebliches Bemühen, in den alten oder neuen Kasusformen eine einzige Bedeutung entdecken zu wollen. Was durch die ganze Sprache hindurchgeht, werden wir auch hier nachweisen können. Die Umstände lenken die Aufmerksamkeit dahin oder dorthin. Im sprachlichen Ausdruck werden die einzelnen Vorstellungen nacheinander wachgerufen, um wieder durch die Erinnerung der begleitenden Umstände aufeinander bezogen zu werden. Im Laufe der Zeit haben sich nun Kasusformen entwickelt, welche die Hauptvorstellung von den Nebenvorstellungen scheiden, aber diese Scheidung bleibt immer schwankend, die Beziehung der Nebenvorstellungen bleibt immer unbestimmt. Wenn ich ohne Kasusform die beiden Worte Komet und Jahr nebeneinander setze, so kann das sowohl heißen "das Jahr eines bestimmten Kometen" als "der Komet eines bestimmten Jahres". In der ausgebildeten Sprache wird nun die Nebenvorstellung im Genitiv ausgedrückt. Der Genitiv bezeichnet in dem einen Falle den umfassenden Begriff, in dem anderen den umfaßten. Man hat die Bedeutungen des Genitivs sehr sauber logisch eingeteilt. In unseren Schulgrammatiken heißt der Genitiv der Besitzfall (was gar nicht aufrecht zu erhalten ist); dann teilt man ihn in einen besitzanzeigenden Genitiv, in einen Genitiv der Teilung, des Stoffs, der Eigenschaft, in einen subjektiven und objektiven Genitiv, in einen hervorrufenden und abzielenden Genitiv und muß am Ende noch einen absoluten Genitiv hinzufügen, um solche Anwendungen zusammenzufassen, die sich dem Schema nicht fügen wollen. Aus diesem Wirrwarr hat schon Hermann Paul dadurch sich zu retten gesucht, dass er sagte, "in den indogermanischen Sprachen werde der Genitiv zum Ausdruck jeder beliebigen Beziehung zwischen zwei Substantiven verwandt" (Pr. d. Sprachg. S. 126), wobei er von dem mit Verben verbundenen Genitiv absah. Wenn wir aber bedenken, dass alle grammatischen Sprachformen ebenso zum Ausdruck von Beziehungen der Vorstellungen verwandt werden, so ist die verzweifelte Erklärung Pauls noch ärmer, als sie ihm selbst erschien. In Wahrheit sagt sie nur, dass der Genitiv eine Sprachform sei, was doch eigentlich noch unter dem Nullwert einer Tautologie steht. Wir können nicht darüber hinaus, im Genitiv die Form eines Wortes zu sehen, welche uns auffordert, unsere Aufmerksamkeit von einer Vorstellung auf eine assoziierte Vorstellung zu lenken; oder vielmehr, da die Assoziation unbewußt erfolgt, so ist der Genitiv die Ausdrucksform für die unbewußte Assoziationstätigkeit. Man könnte einwenden, dass diese Erklärung auf jede andere Kasusform (um nur beim Nomen zu bleiben) ebenso gut passen würde. Sie paßt auch auf jede. Und alle Bemühungen, in den Gebrauch der verschiedenen Kasusformen logischen Sinn hineinzubringen, scheitern an der Tatsache, dass in den verschiedenen Sprachen jede Beziehung durch jede Kasusform ausgedrückt werden kann.
Im Lateinischen kann amor patris noch beides bedeuten: die Liebe des Vaters und die Liebe zum Vater. Je nach den begleitenden Umständen wird der Hörer die beiden Worte im Sinne des Sprechers richtig verstehen, ohne dabei auch nur im entferntesten einen Unterschied im Sinne der Genitivform zu empfinden. Es kann uns gleichgültig sein, durch welchen Zufall der Analogiebildung die Unbestimmtheit der Bedeutung in diesem Falle so groß werden konnte, dass sie Gegensätze umfaßt. Man glaube nicht, dass solche Fälle vereinzelt sind. Im Deutschen bedeutet Vaterliebe allerdings nur die Liebe des Vaters; aber schon das nahverwandte Wort Elternliebe kann nach unserem Sprachgefühl sowohl die Liebe der Eltern als die Liebe zu den Eltern bedeuten, und Vaterlandsliebe ist ganz eindeutig doch nur darum, weil das Vaterland seinerseits nicht liebt. Die begleitenden Umstände entscheiden.
Die berühmte besitzanzeigende Bedeutung des Genitivs, welche doch eine Zahl von Beispielen auswählt, in welchen diese Kasusform einen bestimmten Sinn zu haben scheint, ist viel unklarer, als unsere Grammatiken glauben machen. Wo steckt die besitzanzeigende Bedeutung eigentlich: in "der Fürst des Landes" oder in "das Land des Fürsten?" Gehört der Fürst dem Lande oder gehört das Land dem Fürsten? In Wirklichkeit gehört nur eines z u dem anderen, in unseren Vorstellungen nämlich. Der Genitiv bezeichnet beidemal nur eine Assoziation. Aber selbst in ganz einfach ausgewählten Beispielen des deutlichsten besitzanzeigenden Sinnes wird die Vorstellung je nach den Umständen noch schwanken. Wenn ich sage "der Rock des Vaters", so kann ich damit immer noch verschiedene Beziehungen ausdrücken wollen, z. B. zuerst natürlich "das ist der Rock, der dem Vater gehört", aber auch "das ist der Rock, der dem Vater gestohlen worden ist", oder auch "das ist der Rock, den ich dem Vater zu Weihnachten schenken will".
Eine besitzanzeigende Verwendung scheint es durchaus zu sein, wenn wir den Sonntag den "Tag des Herrn" nennen. Dem Sinne nach erfordert das Verhältnis aber offenbar den Dativ. Es ist der Tag, der dem Herrn geweiht ist. Ebenso scheint "das Werk des Dichters" eminent besitzanzeigend. Die Beziehung ist aber eine ganz andere; es soll gesagt werden, das Werk, welches der Dichter der Welt geschenkt hat. Und in der Umkehrung "der Dichter des Werks" sagt der Genitiv wieder, der Dichter habe das Werk (Akkusativ) verfaßt. Der Genitiv ist nichts weiter als das Mädchen für alles und hat jedwede Beziehung einer substantivischen Vorstellung kurz auszudrücken. Eine andere Analogie hat ihn nicht gebildet. Nur kleine Bezirke innerhalb seines Gebrauchs lassen etwas bestimmtere, aber niemals ganz fest definierbare Analogien erkennen.