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Das dritte Geschlecht

Die genauere Sprachgeschichte der Geschlechtskategorie ist in Dunkel gehüllt. Aber auch die Kasusformen der verschiedenen Geschlechter in den alten Sprachen führen historisch zu einem ähnlichen Ergebnis wie die ungelehrte Betrachtung der Tatsache selbst. Nach der Analogie natürlicher Bezeichnungen weiblicher Tiere mag sich in einigen Sprachen eine weibliche Deklination von der männlichen deutlich unterschieden abgezweigt haben, und diese Analogie mag dann verallgemeinert worden sein wie andere Analogien. Das sächliche Geschlecht, das auf Lateinisch so ehrlich das genus neutrum heißt, sieht verzweifelt der Schrulle irgend eines vorzeitlichen Grammatikers ähnlich, die dann durch irgend eine geistige Mode zu einem Sprachgesetz wurde. Es spricht viel dafür, dass sich diese Geschlechtskategorie auf solche Weise entwickelt habe. Der natürliche Gegensatz zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht ist in den alten Deklinationen und auch im Deutschen viel deutlicher ausgeprägt als der künstliche Gegensatz zwischen dem männlichen und dem sächlichen Geschlecht. Vielleicht waren in irgend einer vorhistorischen Zeit die Dingwörter der bereits mit Dingwörtern versehenen Sprachen ganz anders eingeteilt, vielleicht galt der Unterschied der beiden Geschlechter nur den belebten Dingen, und das Sprachgefühl kannte, wie noch heute bei den nordamerikanischen Stämmen und — wie eben schon erwähnt — bei den Eskimos, daneben die Einteilung in eine belebte und eine unbelebte Klasse. Es war dann, wenn diese "Hypothese" richtig ist, die Kategorie der Unbelebtheit oder Sächlichkeit später als drittes Geschlecht zu den beiden natürlichen hinzugetreten. Alten Grammatikern ist so etwas zuzutrauen; und niemand wird leugnen, dass unser Sprachgefühl mit dem dritten Geschlecht, dem genus neutrum, den Begriff der unbelebten Sächlichkeit verbindet, wie es denn auch im Deutschen jetzt das sächliche Geschlecht genannt wird, während "neutre" im Französischen negativ ist und auch "geschlechtslos" bedeutet.

Für diese Annahme würde auch die Beobachtung sprechen, dass sehr häufig das dritte Geschlecht gar keine Geschlechtsendung hat, sondern sich zu der männlichen Form etwa so verhält wie der Wortstamm zum Nominativ, z.B. in den griechischen Endungen -us, -eia, -u. Es konnte darum das dritte Geschlecht, welches die semitischen Sprachen gar nicht kennen, in. den romanischen Sprachen, wie im Französischen, so leicht wegfallen. Dahin mag es auch gehören, dass im Deutschen ein weibliches Wort zum sächlichen werden kann, wenn es seine Endsilbe verloren hat; aus "die Ecke" wird so "das Eck".

Wir können vermuten, dass auch bei dieser allgemeinen Uniformierungsmode die grammatische Regel einen unheilvollen Einfluß auf die lebendige Sprache gewann. Wir können uns recht gut eine alte Zeit vorstellen, in welcher die Phantasie des Volkes, das heißt die damalige wissenschaftliche Überzeugung, in vielen Dingen außer den Tieren, in Bäumen. Flüssen und dergleichen menschenähnliche Wesen sah, wie sich das ja auch noch in der niedern griechischen Mythologie ausspricht. Wir brauchen nur noch etwas weiter hinter die naturwissenschaftlichen Irrtümer des Aristoteles zurückzugehen, etwa in eine Zeit, wo die Fabeln des Äsop noch nicht eigentlich als Märchen wirkten, sondern der gleichzeitigen wissenschaftlichen Weltanschauung entsprachen, um uns auszudenken , wie zahlreiche Dinge geschlechtlich vorgestellt wurden, wie man in gutem Glauben etwa sagte: Der Rhein-Mann, die Eich-Frau. Wo die Phantasie einen solchen Zusatz nicht verlangte, gab es eben kein Geschlecht. Es ist wohl kein Zweifel, dass in ähnlicher Weise einmal auch die Deklination der Substantive, die Konjugation der Verben und die Steigerung der Adjektive unvollständig waren. Erst als all diese Kategorien den redenden Menschen so weit zum Bewußtsein kamen, dass die Ahnung einer gewissen Gleichmäßigkeit wirksam wurde, da wurde die Uniform der Deklination, der Konjugation und der Steigerung allen Substantiven, Verben und Adjektiven aufgenötigt, und die Sprachen bereicherten sich so durch eine Analogie, die ursprünglich falsch genannt werden mußte, billig und schlecht, mit einer Unzahl neuer Wortformen (vgl. IL 86 f.). Was aber in diesem neuen Gebrauch schematisch vollständiger Deklinationen und Konjugationen immerhin eine größere Gelenkigkeit der Sprache bedeutete, das wurde im allgemeinen Gebrauch der Geschlechtsbezeichnung zu einem Hemmnis der Sprachen, zu einem phantastischen Spiel, dessen sich die Indianersprachen schämen würden. Mich gemahnen die Geschlechtsbezeichnungen der Sprachen leicht an die obszönen Kritzeleien, mit denen unnütze Bubenhände alle Wände beschmieren.

Wie aber diese Kritzeleien in ihrer Hauptmasse einer sexuell männlichen Phantasie angehören, so ist unsere ganze Sprache — will man sie einmal darauf hin betrachten — eine Männersprache, nicht anders als unser Recht ein Männerrecht ist. Nicht nur, wenn sie Bücher schreiben wollen, verkleiden sich Frauen zu Männern. Die Frau sagt: "Ich bin der Herr im Hause"; und hat sie damit Unheil angerichtet, so findet sie nachher, sie sei ein Esel gewesen. "Eselin" wäre ein ganz falsches Bild (vgl. Polle, "Wie denkt das Volk usw.", 2. Aufl., S. 105). Der lustigste Beleg für meine Anschauung ist bei Polle nicht zu finden. Pankraz der Schmollcr (in Kellers Novelle) sagt zu seiner Schönen, die doch eigentlich nur eine Gans ist: "O Fräulein! Sie sind ja der größte Esel, den ich je gesehen habe." Und er fügt "sprachphilosophisch" hinzu: ,Nur wir Männer können sonst Esel sein, dies ist unser Vorrecht" (weil auch kluge Leute Eseleien begehen können), "und wenn ich Sie auch so nenne, so ist es noch eine Art Auszeichnung oder Ehre für Sie."

Es versteht sich für mich von selbst, dass sich aus solchen gelegentlichen Beweisen für die Existenz einer Männersprache kein Gesetz ableiten ließe. Auch hier herrscht der Zufall der Sprachgeschichte als Sprachgebrauch. Herr Parzival wird (Wolfr. V. 717) "eine Gans" gescholten, trotzdem ihm just das Gegenteil von Schnattern vorgeworfen wird. "Möcht ihr gerühret han den flans." (Soviel wie Mund, Maul; etymologisch wohl nicht nur mit flunsch zusammenhängend, wie H. Paul bemerkt hat, sondern auch mit Flunder.)

Man kann sagen, dass beim bildlichen Gebrauch solcher Worte, auch bei Übertragung von Berufsworten auf Frauen (Arzt und dergleichen) das männliche Geschlecht neutral sei.

Die Erfindung des dritten Geschlechts, des Neutrums, erscheint mir, trotzdem ich in meiner Muttersprache unter dem Banne dieses dritten Geschlechts rede, eine der abgeschmacktesten und albernsten Erfindungen des Sprachgeistes zu sein. Freilich gehe ich so weit, in der Einteilung der Substantive nach Geschlechtern eine vorübergehende Mode zu sehen, die allerdings ein bißchen lange gedauert hat, nämlich seit Jahrtausenden. Aber es kann kein Zweifel daran sein, dass in irgend welchen Urzeiten die Worte noch kein Geschlecht hatten, und es ist eine Tatsache, dass die modernste Weltsprache der Gegenwart, das Englische, den Geschlechtsunterschied bis auf wenige Spuren getilgt hat. Wir können uns also den Anfang dieser besonderen Metapher vorstellen und ihr Ende bereits voraus ahnen. Haben einst unsere Sprachen erst den Luxus, jedem Ding ein Geschlecht beizulegen, wieder abgelegt, dann werden sie vielleicht auf den früheren Zustand zurückblicken, wie wir etwa auf den Euphuismus, den luxurierenden Bilderreichtum, wie er leider immer noch bei Shakespeare (der wegen solcher Abhängigkeit vom Zeitgeschmack ja doch nicht aufhören soll, uns ein Wunder zu bedeuten) bewundert wird.

Die Sprachform der Geschlechtsbezeichnung gibt also überhaupt kein bestimmtes Bild. Irgend ein Zufall der Endsilbe hat in den alten Sprachen die Phantasie analogisch gelenkt, als es einmal Regel geworden war, den einzelnen Worten ein Geschlecht beizulegen. Selten nur hat das Bild überhaupt einen Sinn gehabt; es ist meist eine Sprachverzierung gewesen. Der Gebrauch des nach Geschlechtern getrennten Artikels in neueren Sprachen hat den Geschlechtsunterschied womöglich noch äußerlicher gemacht. Der Geschlechtswandel ist darum eine sehr häufige Erscheinung, auch innerhalb einer und derselben Sprache. Es ist eine hübsche Beobachtung, dass im Deutschen besonders solche Worte, welche am häufigsten in dem geschlechtslosen Plural gebraucht werden, bei denen also die Geschlechtsbezeichnung des Singulars weniger eingeübt war, ihr Geschlecht am leichtesten verändert haben. "Woge", "Träne" waren im Mittelhochdeutschen männlich; "Wolke", "Waffe" waren im Mittelhochdeutschen sächlich.