Vokativ und Imperativ
Es war recht unwahrscheinlich, dass uns die historische Sprachwissenschaft die Möglichkeit gewähren würde, die Phantasie von einer Sprachschöpfung zu illustrieren, in die Zeit zurückzuleuchten, in welcher ein unflektierter Ruf doch den grammatischen Wert eines Satzes haben konnte. Und dennoch finde ich jetzt ein zweites Beispiel so weit vorbereitet, dass ich es vorsichtig beibringen möchte. Es handelt sich um eine auffallende Ähnlichkeit zwischen dem Vokativkasus des Substantivs und der Imperativform des Verbums. Sie lassen sich beide als die flexionslosen Formen betrachten. Wenn wir uns von unserer Gewohnheit, vom Infinitiv und vom Nominativ auszugehen, ganz befreien könnten, so würden wir einsehen, dass der Vokativ und der Imperativ die ältesten Formen des Substantivs und des Verbums darbieten. Darüber weiß die historische Grammatik hübsche Einzelheiten. In vorhistorischer Zeit nun, als die Kategorien des Substantivs und des Verbums so wenig vorhanden waren, als sie es heute im Chinesischen sind, konnte eine und dieselbe Lautgruppe natürlich Vokativ und Imperativ ausdrücken, und zwar so, dass der Hörer die Substantiv- und die Verbalform identifizieren mußte. Erinnern wir uns nun gar, dass die Sprache zwischen den Menschen von gar nichts Anderem ausgehen konnte als vom auffordernden Anruf, so besitzen wir in unserem "du" etwas wie eine Seitenform zu dem genus generalissimum, dem Demonstrativpronomen "da" oder "das", eine Seitenform, welche nicht durch Flexion, sondern durch ein neues Wort zugleich den Vokativ und den Imperativ in die Sprache hineinbrachte.