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Passivum

Nicht ganz so offen auf der Hand liegt die Unbestimmtheit des Sinnes bei den Sprachformen des Verbums. Wer seinen robusten Glauben an sein Verhältnis zur Wirklichkeitswelt nicht durch Nachdenken verloren hat, der wird besonders die Zeitformen des Verbums für außerordentlich logische Bestimmungen halten; ebenso den Unterschied zwischen Aktivum und Passivum. Wir sind so unüberwindlich daran gewöhnt, unseren Worten den Sinn zu geben, den unsere Vorstellungen durch die begleitenden Umstände erhalten, dass wir natürlich — und vom Standpunkte der Wirklichkeit mit Recht — einen großen Unterschied sehen zwischen "ich schlage meinen Bruder" und "ich werde von meinem Bruder geschlagen". Nun kann aber kein Zweifel daran sein, dass die Sprache in Urzeiten, ebenso wie heute die Sprache eines zweijährigen Kindes, keinen Unterschied machte zwischen Aktivum und Passivum. "Bruder schlagen" ruft das Kind und die Mutter erfährt mit voller Deutlichkeit aus den begleitenden Umständen (dem weinerlichen oder triumphierenden Ton des Rufers, aus der ihr wohlbekannten Stärke und der Gewohnheit der Kinder und dergleichen), was gemeint ist. Wenn wir uns erinnern, was eben über das Wesen des Akkusativs gesagt worden ist, so werden wir das Passivum nicht näher erklären können als durch die Tatsache, dass es Veränderungen in der Außenwelt bezeichne. Der Unterschied vom Aktivum besteht nur darin, dass die Aufmerksamkeit zunächst und mit vollem Licht auf den Gegenstand gelenkt wird, an dem die Veränderung sichtbar wird. Das Kind ruft z. B. ausnahmsweise einmal so tonlos "Bruder schlagen", dass die Mutter meint, es habe den Bruder geschlagen. Sie zankt. Darauf kann das Kind ohne Kenntnis des Passivums ganz gut so sich ausdrücken: "Ich ... schlagen ... Bruder", wenn es nur durch Ton oder Geste den Bruder als die handelnde Person hinstellt.

Der aufmerksame Leser wird schon bemerkt haben, dass diese Erklärung von Aktivum und Passivum so ziemlich zusammenfällt mit meiner Erklärung der transitiven und intransitiven Verben. "Ich fälle die Bäume" ist Transitivum und Aktivum; "die Bäume fallen" läßt sich aber ebenso gut als Passivum wie als Intransitivum auffassen. "Die Bäume fallen" unterscheidet sich — wenn ich es allgemein als ein Beispiel ausspreche — ganz und gar nicht von "die Bäume werden gefällt". Nach meinem Sprachgefühl ist aber in der wirklichen Sprache eine Nuance zwischen "die Bäume fallen (unter dem Beil des Holzhauers)" und "die Bäume fallen (durch den Sturmwind)". Den zweiten Satz empfinde ich als einen bildlichen, einen poetischen Ausdruck. Das wäre ebenso, wenn ich gesagt hätte, "die Bäume werden vom Holzhauer, sie werden vom Sturmwind gefällt". Das eine Mal ist die handelnde Person wesentlich, welche die Veränderung am Außending hervorbringt, das andere Mal ist sie mehr eine beschreibende Zutat.

Aber die Unbestimmtheit erstreckt sich noch weiter als auf so feine Empfindungen des Sprachgefühls. Wir können das an den modernen Sprachen deutlich zeigen.

Das Passivum wird ausgedrückt durch ein Hilfszeitwort und das Participium perfecti des Verbums. Im Englischen und Französischen dient dazu das Hilfszeitwort "sein": I am loved, je suis aimé. Darin liegt — nebenbei bemerkt — deutlich ausgedrückt, wie das äußere Objekt zum inneren Objekt wird. Der Vorgang nur ist das, was uns klar ist. War die Aufmerksamkeit mehr auf den Schnee gerichtet, so lautet der Ausdruck: "Der Schnee blendet mich." War die Aufmerksamkeit mehr auf mich selbst gerichtet, so lautet der Ausdruck: "Ich bin geblendet" (das deutsche Hilfszeitwort "werden" gibt nur mit intimerer Beschreibung noch die Nuance, dass eben eine Veränderung vor sich gehe).

Wenn ich nun behauptet habe, es sei ein sprachgeschichtlicher Zufall, dass Eigenschaften der Dinge bald durch Adjektive, bald durch Verben ausgedrückt werden (ist grün — grünt), so scheint mir im sogenannten Passivum das transitive Verbum zum Eigenschaftswort zurückzukehren. "Der Baum ist grün" und "der Baum ist (wird) gefällt" unterscheiden sich ja nur darin, dass das erste Mal die Eigenschaft, das Merkmal, der Sinneseindruck von mir bereits vorgefunden wird, so dass ich ohne besonderen Anlaß nicht nach der Ursache frage; das ganze Werk der Naturwissenschaft besteht vielleicht darin, dass von übermütig wissensdurstigen Menschen dennoch nach der Ursache von Eigenschaften gefragt worden ist, die durch Adjektive und intransitive Verben bezeichnet werden und die wir vorfinden, ohne eine Veränderung wahrgenommen zu haben. Das zweite Mal (der Baum ist [wird] gefällt) sehe ich die Eigenschaft vor meinen Augen entstehen, "werden"; ich fühle mich daher aufgefordert nach der gewöhnlich sehr handgreiflichen Ursache, z. B. nach der handelnden Person zu fragen. Beidemal aber bemerke ich eine Eigenschaft. Das Participium perfecti ist ein Eigenschaftswort. Im Passivum ist das Zeitwort zu einem Eigenschaftswort geworden, wie es vielleicht in Urzeiten der Sprache ganz und gar mit dem Eigenschaftswort zusammenfiel.

Und nun achte man darauf, wie unbestimmt dieses Participium perfecti ist, wenn man es feinhörig auf aktiven oder passiven Sinn untersucht. Eigentlich unterscheidet sich dieses Partizip des Perfekts der transitiven Verben gar nicht vom Partizip der Gegenwart der intransitiven Verben. "Der Baum ist gefällt" und "der Baum ist blühend". Ich kann zwischen dem Passivum und dem Aktivum keinen anderen Unterschied sehen als den stärkeren oder geringeren Anreiz, nach der Ursache einer Eigenschaft zu fragen.

Als etwas Bekanntes füge ich hinzu, dass eine ganze Anzahl solcher passiver Partizipien ganz und gar zu Eigenschaftswörtern (in aktiver Bedeutung also) geworden sind: ein erfahrener Mann, ein verdienter, ein (weit) gereister, ein studierter Mann usw. Dazu kommen ähnliche Worte, die sich erst im Sprachgebrauch festzusetzen suchen, wie: stattgefunden, stattgehabt. Goethe sagt einmal: "Das den Grafen befallene Unglück."