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Prädikat im Namen

Wer das nun erfaßt hat, dass nämlich alle syntaktischen Regeln nicht einmal imstande sind, das ABC des Satzgefüges, das Verhältnis von Subjekt und Prädikat, eindeutig auszudrücken, der wird natürlich die Unfähigkeit der Syntax für alle komplizierteren Fälle leicht erkennen. Und im Grunde gibt es auf dem gesamten Gebiete der Sprache eigentlich kein anderes Verhältnis als das von Subjekt und Prädikat. Ist Subjekt das Selbstverständliche, Prädikat das Aussagenswerte, so ist jede nähere Bestimmung, jeder Satzteil, jede Erweiterung des Sinnes, jeder Nebensatz immer wieder das Prädikat zu dem Vorausgehenden, das in dem Augenblicke zum Subjekt geworden ist, wo wir es wissen. Alle Verhältnisse im Satzgefüge lassen sich zurückführen auf das Verhältnis eines zu bestimmenden Worts zur Bestimmung. Ein feines Sprachgefühl wird gewöhnlich genau empfinden, worauf es ankommt, was das Aussagenswerte ist, das Prädikat, die prädikable Bestimmung. Aber auch das Sprachgefühl, wie es seinerseits auf die Sprachgewohnheiten wirkt, steht unter dem Banne der Sprachgewohnheiten. Ich möchte das an dem hübschen Beispiele unsrer Namen noch kurz nachweisen. In "Wilhelm Müller" ist unter Umständen Müller das bestimmende Wort, das Prädikat von Wilhelm. Man würde fragen "welcher Wilhelm?", wenn ohne besondere Hilfen bloß von einem Wilhelm die Rede ist. Es könnte anstatt Wilhelm Müller auch heißen: der blonde Wilhelm, der bucklige Wilhelm. Das Sprachgefühl würde aber sofort wechseln, wenn es sich darum handeln würde, einen aus der Familie Müller näher zu bestimmen. Dann wird Wilhelm zum Prädikat, zur Bestimmung, zum Merkmal, oder wie man die Sache nennen will. Dann kann man auch sagen: der blonde Müller, der bucklige Müller. Als Polizei und Sitte noch nicht die doppelten Namen verlangten, die den doppelten Namen der Naturgeschichte so verzweifelt ähnlich sehen, war das Sprachgefühl noch einfacher; eine historische Untersuchung würde denn auch ergeben, dass die meisten Familiennamen wirklich Prädikate, Adjektive und dergleichen sind. Nun nehme man aber Fälle, in denen der Doppelname noch nicht offiziell geworden ist, wie z. B. bei den Helden des Homer, in der vertraulichen Anrede der Russen und in den jüdischen Namen aus der Zeit, bevor sie sich der allgemeinen Landessitte fügten.

Bei den Griechen, die keine eigentlichen Familiennamen hatten, wurde der Vatersname nur zur Vermeidung von Verwechselungen hinzugefügt, also als ein richtiges Adjektiv oder Prädikat. Der Taufname, wenn wir das Wort für die Griechen gebrauchen dürfen, bildete das Subjekt. Und es war ganz konsequent, wenn die Sklaven, weil sie keine Subjekte waren. weil sie demnach keine Persönlichkeit hatten, ganz ohne Namen blieben und rein adjektivisch nach ihrem Vaterlande hießen, z. B. der Syrer. So liegt die Sache in der Umgangssprache und in der Prosa. Wenn nun Homer gewöhnlich, trotzdem eine Verwechselung in den seltensten Fällen möglich ist, den Vatersnamen hinzufügt, so ist das schon Poesie oder Luxus. Bei Aias ist der Zusatz "der Telamonier" nicht Poesie, weil es auf eine Unterscheidung vom andern Aias ankommt. Es ist ein erklärendes Prädikat. Bei Achilleus oder Odysseus ist der Zusatz "der Peleiade, der Laertiade" poetisch, ein üppig erzählendes Prädikat, ein schmückendes Epitheton. Eine leise Schmeichelei liegt darin, nicht anders, als wenn heute ein schwungvoller patriotischer Historiker von Wilhelm dem Hohenzoller reden würde, trotzdem eine Verwechselung nicht möglich wäre. Es wird durch den Familiennamen eine Stimmung erregt, die freilich bis zur bloßen Feierlichkeit verblassen kann.

Ganz ähnlich liegt es mit dem Gebrauch des Vatersnamens in Rußland. Offiziell haben die Leute ihren Familiennamen. Im persönlichen Verkehr jedoch erfordert die Sitte unter Freunden und guten Bekannten, dass der Angeredete mit seinem Tauf- und Vatersnamen gerufen wird. In einer russischen Übersetzung müßte darum die stehende Anrede "Achilleus Peleussohn" einen weit herzlicheren Eindruck machen als im Deutschen das kältere "Peleiade Achilleus".

Bei den Judennamen liegt der Fall nicht so einfach. Jetzt klingt Felix Mendelssohn für unser Sprachgefühl schon ebenso wie Wilhelm Müller. Zur Zeit von Moses Mendelssohn war der Sprachgebrauch innerhalb der Judengemeinde noch orientalisch, homerisch, wenn man will. Es gab in Dessau viele kleine Moses. Sollte der künftige Philosophierer von den andern Moses unterschieden werden, so hieß er "Moses Mendels Sohn". Im Mittelalter hätte er "Moses ben Mendel" geheißen. Innerhalb des Berliner Freundeskreises war das aber schon wieder nicht nötig, und in zeitgenössischen Briefen ist von ihm einfach als von dem Herrn Moses die Bede. Wenn also in der Judengemeinde von Dessau "Moses Mendelssohn" gesagt wurde, so war der Vatersname ein erklärendes Prädikat; wenn Lessing sich einmal herbeiließ, ausführlich "Herr Moses Mendelssohn" zu schreiben, so war der Vatersname wohl für sein Sprachgefühl noch kein moderner Familienname (wie in Felix Mendelssohn), sondern mehr ein erzählendes Prädikat, ein schmückendes Adjektiv, vielleicht mit einem ganz fernen Anklang an scherzhaften Gebrauch homerischer Vatersnamen. In Briefen an seine Braut unterschrieb sich Moses noch "Moses Dessau".

Ich bin ausführlicher geworden, weil mir diese Kleinigkeit wichtig scheint für die Erkenntnis des wahren Wesens der Syntax. Ihre ganze und einzige Aufgabe besteht nur darin, dass sie uns hilft, in der Flucht unserer Gedankenassoziationen das Prädikat dem Subjekt zu nähern, die Bestimmung dem zu bestimmenden Worte anzufügen. Man wird das im Satzgefüge leichter zugeben, wenn man diese geheime Spracharbeit selbst in dem elementarsten Falle wahrgenommen hat. Es kann aber kein elementareres Wort ausgedacht werden, als der Name ist, der auf der Welt nichts Anderes bezeichnet als eine bestimmte Person, ein Individuum, auf das man mit dem Zeigefinger weisen kann. Sobald nun die Sprache aus irgend welchem Grunde bequemer ist als der Gebrauch des Zeigefingers, sobald wir das Individuum nennen wollen, in seinem Namen schon geht die Sprache in Subjekt und Prädikat auseinander.