Haupt- und Nebensatz
Wie wenig die syntaktischen Kategorien, die die Grammatik aufzählt, mit unserer Erkenntnis oder auch nur mit unseren Mitteilungen zu tun haben, mag daraus klar werden, dass nicht einmal die umfassendste Unterscheidung, die in Haupt- und Nebensatz, irgend einen definierbaren Sinn ergibt. Was ein Hauptsatz sei, das kann man überhaupt nur durch die Gegenüberstellung zum Nebensatz klar machen, und dann nur mit Worten, die ganz und gar bildlich sind. Hauptsatz soll derjenige Satz sein, von dem ein Nebensatz ein Satzglied umschreibt, von dem also ein Nebensatz abhängt. Wenn die Grammatiker wüßten, was sie sagen wollen, so würden sie doch nicht ein so unfaßbares Wort wie "abhängen" gebrauchen. Meinetwegen aber mag der Hauptsatz so erklärt werden, nämlich so, dass er kein Nebensatz sei. Dann müßten wir aber wenigstens erfahren, was ein Nebensatz ist. Ein Nebensatz aber wird erklärt als ein Satz, der ein Satzglied zu der Form eines Satzes erweitert. Schrecklich, aber auch das will ich hinnehmen. Wir sehen in diesem Erklärungsversuche eine Bestätigung dafür, dass ein Unterschied zwischen einem Satzglied (Bestimmungswort der Zeit, des Grundes usw.) und einem Nebensatz für den Sinn, also für die Absicht der Sprache nicht vorhanden ist. Nun aber weiter. Wenn sämtliche Satzglieder die Form von Sätzen erhalten, wird dann auch das Hauptglied zu einem Nebensatz? Im Sinne der Schulgrammatik gewiß. Aber so wie im einfachen Satze die Kategorien Subjekt, Kopula und Prädikat sich durchaus nicht immer mit ihren Definitionen decken, wie je nach "der Absicht des Redenden oder den begleitenden Umständen sowohl Prädikat als Kopula die Bedeutung gewinnen kann, die wir dem Subjekt zulegen, so kann im Satzgefüge jeder Teil zur Hauptsache werden. Durch Wortstellung oder Betonung kann ich in dem einfachen Satze "ich sprach gestern im Theater meinen Freund G". nacheinander jedes Wort zur Hauptsache machen, zu dem, was man das psychologische Subjekt genannt hat. Je nachdem, was an meiner Mitteilung das Neue ist, worauf ich die Aufmerksamkeit lenken will, kann ich sagen: "Meinen Freund G. sprach ich im Theater gestern" oder "ich sprach meinen Freund G. gestern im Theater" oder "ich sprach gestern im Theater meinen Freund G." oder "meinen Freund G." oder "meinen Freund G." usw. Habe ich aus dem Satze eine Periode gemacht, so liegt das Verhältnis durchaus nicht anders. Das Neue, das, worauf ich die Aufmerksamkeit richten will, kann sehr wohl im Nebensatze ausgedrückt sein. Wenn vorhin in der langen Periode der Relativsatz vorkommt, "welcher mein einziger Freund ist", so verschwindet für mich und vielleicht auch für den Hörer die Bedeutung des ganzen Satzgefüges hinter diesem Nebensatz. Die Bezeichnung Hauptsatz und Nebensatz verliert in allen solchen Fällen jeden Sinn; das Abhängigkeitsverhältnis — um das bildliche Wort schon zu gebrauchen — wird durch die Wirklichkeit bestimmt und nicht durch syntaktische Formen. Ja, ich verlasse mich auf mein eigenes Sprachgefühl und behaupte ganz entschieden, dass unter Umständen der eben gebildete Nebensatz trotz seines Relativpronomens (das für mich den Wert eines mit einer Konjunktion verbundenen Pronomens hat, wie denn auch Schopenhauer solche Beziehungen gern mit "als welcher"1 ausdrückt) in unserer Vorstellung nicht nur den Hauptgedanken enthält, sondern sogar die sprachliche Empfindung des Hauptsatzes erzeugen kann. Wenn ich in einer noch so langen Periode, in der sich Haupt- und Nebensätze verschlingen, endlich nach Angabe aller Zeit- und Ortsbestimmungen zu dem Schluß komme "... G., welcher (als Welcher) mein einziger Freund ist", so kann die Sachlage dazu führen, dass ich die ganze Periode dieses Bekenntnisses wegen gebildet habe und dass ich dann diesen Nebensatz nach meinem Sprachgefühl deutlich auch formell als Hauptsatz empfinde, etwa so: jawohl, jawohl dieses Menschenkind, von dem ich euch jetzt so viel erzählt habe, ist G. und der oder die ist mein einziger Freund.
Die Hauptkategorien der Syntax, Haupt- und Nebensatz, sind also nicht bestimmend für den Sinn des Satzgefüges. Die syntaktischen Formen täuschen uns durch unsere Gewohnheit nicht minder als die Kasusformen und die Tempusformen. Lösen wir ein Satzgefüge in lauter einfache Sätze auf, so erkennen wir oft deutlich, wie täuschend die Analogie des Sinnes war, die die Syntax uns vorgespiegelt hat. Die Sätze "ich traf G., mit dem (den) ich sprach" und "ich traf G., den du kennst" sind im Sinne der Syntax vollkommen gleichwertige Sätze. Sie haben aber in Wirklichkeit gar keine Analogie miteinander. Der erste Satz will sagen "ich traf G., darauf sprach ich mit ihm"; der zweite Satz sagt "ich traf G., du kennst ihn ja". Der erste Satz erzählt weiter und beginnt in einer Laune der Sprache die Hauptsache mit dem Relativpronomen; der zweite Satz fügt ebenso einen Nebenumstand an. Man wird geneigt sein, eine solche Verwendung des Nebensatzes für eine Nachlässigkeit zu halten; die Philologen wissen aber, dass sie in den meisten wohlgeordneten Schriftsprachen vorkommt, dass sie besonders in der um ihre Logik gerühmten lateinischen Grammatik gar nicht übersehen werden kann. So geht es aber immer, wenn die Aufmerksamkeit sich auf irgend eine Kategorie der Syntax richtet. Man entdeckt zuerst eine gewisse Unbestimmtheit in der Bedeutung der Kategorie, dann eine Anomalie oder Nachlässigkeit in ihrer augenblicklichen Anwendung, bis man durch die Wiederholung solcher Beobachtungen zu der Überzeugung geführt werden mag, dass Unbestimmtheit, Anomalie und Nachlässigkeit zum Wesen jeder syntaktischen Gewohnheit wie zum Wesen der Sprache überhaupt gehört.
- Man möchte unser gutes altes Relativpronomen "welcher" am liebsten völlig ausrotten; ich habe mich mit Vorteil daran gewöhnt, "der, die, das" zu schreiben, wenn der Relativsatz fast bedeutungslos nur ein Epitheton ersetzt, welcher" usw. jedoch, wenn der Relativsatz eine Begründung mitenthält. Ich empfehle diese Unterscheidung zur Nachahmung.↩