§ 19. Appropriation der Arbeitsverwertung


§ 19. (noch: II, vgl. § 18). Sozial unterscheidet sich die Art der Leistungsverteilung ferner:

B. je nach der Art, wie die als Entgelte bestimmter Leistungen bestehenden Chancen appropriiert sind. Gegenstand der Appropriation können sein:

1. Leistungsverwertungschancen, –

2. sachliche Beschaffungsmittel, –

3. Chancen von Gewinn durch disponierende Leistungen.

 

Über den soziologischen Begriff der »Appropriation« s. oben Kap. I § 10.

 

Zu 1. Appropriation von Arbeitsverwertungschancen. Möglich ist dabei:

I. daß die Leistung an einen einzelnen Empfänger (Herrn) oder Verband erfolgt,

II. daß die Leistung auf dem Markt abgesetzt wird.

In beiden Fällen bestehen folgende vier, einander radikal entgegengesetzte Möglichkeiten:

 

Erste Möglichkeit:

a) Monopolistische Appropriation der Verwertungschancen an den einzelnen Arbeitenden (»zünftig freie Arbeit«), und zwar:

α. erblich und veräußerlich, oder

β. persönlich und unveräußerlich, oder

γ. zwar erblich, aber unveräußerlich, – in allen diesen Fällen entweder unbedingt oder an materiale Voraussetzungen geknüpft.

 

Für 1 a α sind Beispiele: für I indische Dorfhandwerker, für II mittelalterliche »Real«-Gewerberechte, für 1 a β in dem Fall I alle »Rechte auf ein Amt«, für 1 a γ I und II gewisse mittelalterliche, vor allem aber indische Gewerberechte und mittelalterliche »Ämter« verschiedenster Art.

 

Zweite Möglichkeit:

b) Appropriation der Verwertung der Arbeitskraft an einen Besitzer der Arbeiter (»unfreie Arbeit«)

α. frei, d.h. erblich und veräußerlich (Vollsklaverei), oder

β. zwar erblich, aber nicht oder nicht frei veräußerlich, sondern z.B. nur mit den sachlichen Arbeitsmitteln – insbesondere Grund und Boden – zusammen (Hörigkeit, Erbuntertänigkeit).

 

Die Appropriation der Arbeitsverwertung an einen Herrn kann material beschränkt sein (b, β: Hörigkeit). Weder kann dann der Arbeiter seine Stelle einseitig verlassen, noch kann sie ihm einseitig genommen werden.

 

Diese Appropriation der Arbeitsverwertung kann vom Besitzer benutzt werden

a) haushaltsmäßig und zwar

α. als naturale oder Geld-Rentenquelle, oder

β. als Arbeitskraft im Haushalt (Haus-Sklaven oder Hörige);

b) erwerbsmäßig

α. als αα. Lieferanten von Waren oder ββ. Bearbeiter gelieferten Rohstoffes für den Absatz (unfreie Hausindustrie),

β. als Arbeitskraft im Betrieb (Sklaven- oder Hörigenbetrieb).

 

Unter »Besitzer« wird hier und weiterhin stets ein (normalerweise) nicht als solcher notwendig, sei es leitend, sei es arbeitend, am Arbeitsprozeß Beteiligter bezeichnet. Er kann, als Besitzer, »Leiter« sein; indessen ist dies nicht notwendig und sehr häufig nicht der Fall.

Die »haushaltsmäßige« Benützung von Sklaven und Hörigen (Hintersassen jeder Art): nicht als Arbeiter in einem Erwerbsbetriebe, sondern als Rentenquelle, war typisch in der Antike und im frühen Mittelalter. Keilschriften kennen z.B. Sklaven eines persischen Prinzen, die in die Lehre gegeben werden, vielleicht, um für den Haushalt als Arbeitskraft tätig zu sein, vielleicht aber auch, um gegen Abgabe (griechisch »a’ p.f...«, russisch »obrok«, deutsch »Hals«- oder »Leibzins«) material frei für Kunden zu arbeiten. Das war bei den hellenischen Sklaven geradezu die (freilich nicht ausnahmslose) Regel, in Rom hat sich die selbständige Wirtschaft mit peculium oder merx peculiaris (und, selbstverständlich, Abgaben an den Herrn) zu Rechtsinstituten verdichtet. Im Mittelalter ist die Leibherrschaft vielfach, in West- und Süddeutschland z.B. ganz regelmäßig, in ein bloßes Rentenrecht an im übrigen fast unabhängigen Menschen verkümmert, in Rußland die tatsächliche Beschränkung des Herrn auf obrok-Bezug von tatsächlich (wenn auch rechtlich prekär) freizügigen Leibeigenen sehr häufig (wenn auch nicht die Regel) gewesen.

Die »erwerbsmäßige« Nutzung unfreier Arbeiter hatte insbesondere in den grundherrlichen (daneben wohl auch in manchen fürstlichen, so vermutlich den pharaonischen) Hausindustrien die Form angenommen entweder:

a) des unfreien Lieferungsgewerbes: der Abgabe von Naturalien, deren Rohstoff (etwa: Flachs) die Arbeiter (hörige Bauern) selbst gewonnen und verarbeitet hatten, oder

b) des unfreien Verwertungsgewerbes: der Verarbeitung von Material, welches der Herr lieferte. Das Produkt wurde möglicherweise, wenigstens teilweise, vom Herrn zu Geld gemacht. In sehr vielen Fällen (so in der Antike) hielt sich aber diese Marktverwertung in den Schranken des Gelegenheitserwerbes, – was in der beginnenden Neuzeit namentlich in den deutschslavischen Grenzgebieten nicht der Fall war: besonders (nicht: nur) hier sind grund- und leibherrliche Hausindustrien entstanden. – Zu einem kontinuierlichen Betrieb konnte der leibherrliche Erwerb sowohl in Form

a) der unfreien Heimarbeit wie

b) der unfreien Werkstattarbeit werden. Beide finden sich, die letztere als eine der verschiedenen Formen des Ergasterion in der Antike, in den pharaonischen und Tempel-Werkstätten und (nach Ausweis der Grabfresken) auch privater Leibherren, im Orient, ferner in Hellas (Athen: Demosthenes), in den römischen Gutsnebenbetrieben (vgl. die Darstellung von Gummerus), in Byzanz, im karolingischen »genitium« (= Gynaikeion) und in der Neuzeit z.B. in der russischen Leibeigenenfabrik (vgl. M. v. Tugan-Baranowskijs Buch über die russische Fabrik [1900]).

 

Dritte Möglichkeit:

c) Fehlen jeder Appropriation (formal »freie Arbeit « in diesem Sinn des Wortes): Arbeit kraft formal beiderseits freiwilligen Kontraktes. Der Kontrakt kann dabei jedoch material in mannigfacher Art reguliert sein durch konventional oder rechtlich oktroyierte Ordnung der Arbeitsbedingungen.

Die freie Kontraktarbeit kann verwertet werden und wird typisch verwendet

a) haushaltsmäßig:

α. als Gelegenheitsarbeit (von Bücher »Lohnwerk« genannt);

αα) im eigenen Haushalt des Mieters: Stör;

ββ) vom Haushalt des Arbeiters aus (von Bücher »Heimwerk« genannt);

β. als Dauerarbeit

αα) im eigenen Haushalt des Mieters (gemieteter Hausdienstbote);

ββ) vom Haushalt des Arbeiters aus (typisch: Kolone);

b) erwerbsmäßig und zwar

α. als Gelegenheits- oder

β. als Dauerarbeit, – in beiden Fällen ebenfalls entweder

1. vom Haushalt des Arbeiters aus (Heimarbeit), oder

2. im geschlossenen Betrieb des Besitzers (Gutsoder Werkstattarbeiter, insbesondere: Fabrikarbeiter).

 

Im Fall a steht der Arbeiter kraft Arbeitskontrakts im Dienst eines Konsumenten, welcher die Arbeit »leitet«, im zweiten im Dienst eines Erwerbsunternehmers: ein, bei oft rechtlicher Gleichheit der Form, ökonomisch grundstürzender Unterschied. Kolonen können beides sein, sind aber typisch Oiken-Arbeiter.

 

Vierte Möglichkeit:

d) Die Appropriation von Arbeitsverwertungschancen kann endlich erfolgen an einen Arbeiterverband ohne jede oder doch ohne freie Appropriation an die einzelnen Arbeiter, durch

α. absolute oder relative Schließung nach außen;

β. Ausschluß oder Beschränkung der Entziehung der Arbeitserwerbschancen durch den Leiter ohne Mitwirkung der Arbeiter.

 

Jede Appropriation an eine Kaste von Arbeitern oder an eine »Berggemeinde« von solchen (wie im mittelalterlichen Bergbau) oder an einen hofrechtlichen Ministerialenverband oder an die »Dreschgärtner« eines Gutsverbandes gehört hierher. In unendlichen Abstufungen zieht sich diese Form der Appropriation durch die ganze Sozialgeschichte aller Gebiete. – Die zweite, ebenfalls sehr verbreitete Form ist durch die »closed shops« der Gewerkschaften, vor allem aber durch die »Betriebsräte«, sehr modern geworden.

 

Jede Appropriation der Arbeitsstellen von Erwerbsbetrieben an Arbeiter, ebenso aber umgekehrt die Appropriation der Verwertung von Arbeitern (»Unfreien«) an Besitzer, bedeutet eine Schranke freier Rekrutierung der Arbeitskräfte, also: der Auslese nach dem technischen Leistungsoptimum der Arbeiter, und also eine Schranke der formalen Rationalisierung des Wirtschaftens. Sie befördert material die Einschränkung der technischen Rationalität, sofern

I. die Erwerbsverwertung der Arbeitserzeugnisse einem Besitzer appropriiert ist:

a) durch die Tendenz zur Kontingentierung der Arbeitsleistung (traditional, konventional oder kontraktlich), –

b) durch Herabsetzung oder – bei freier Appropriation der Arbeiter an Besitzer (Vollsklaverei) – völliges Schwinden des Eigeninteresses der Arbeiter am Leistungsoptimum, –

II. bei Appropriation an die Arbeiter: durch Konflikte des Eigeninteresses der Arbeiter an der traditionalen Lebenslage mit dem Bestreben des Verwertenden a) zur Erzwingung des technischen Optimums ihrer Leistung oder b) zur Verwendung technischer Ersatzmittel für ihre Arbeit. Für den Herrn wird daher stets die Verwandlung der Verwertung in eine bloße Rentenquelle naheliegen. Eine Appropriation der Erwerbsverwertung der Erzeugnisse an die Arbeiter begünstigt daher, unter sonst dafür geeigneten Umständen, die mehr oder minder vollkommene Expropriation des Besitzers von der Leitung. Weiterhin aber regelmäßig: die Entstehung von materialen Abhängigkeiten der Arbeiter von überlegenen Tauschpartnern (Verlegern) als Leitern.

 

1. Die beiden formal entgegengesetzten Richtungen der Appropriation: der Arbeitsstellen an Arbeiter und der Arbeiter an einen Besitzer, wirken praktisch sehr ähnlich. Dies hat nichts Auffallendes. Zunächst sind beide sehr regelmäßig schon formal miteinander verbunden. Dies dann, wenn Appropriation der Arbeiter an einen Herrn mit Appropriation der Erwerbschancen der Arbeiter an einen geschlossenen Verband der Arbeiter zusammentrifft, wie z.B. im hofrechtlichen Verbande. In diesem Fall ist weitgehende Stereotypierung der Verwertbarkeit der Arbeiter, also Kontingentierung der Leistung, Herabsetzung des Eigeninteresses daran und daher erfolgreicher Widerstand der Arbeiter gegen jede Art von technischer »Neuerung«, selbstverständlich. Aber auch wo dies nicht der Fall ist, bedeutet Appropriation von Arbeitern an einen Besitzer tatsächlich auch das Hingewiesensein des Herrn auf die Verwertung dieser Arbeitskräfte, die er nicht, wie etwa in einem modernen Fabrikbetrieb, durch Auslese sich beschafft, sondern auslesefrei hinnehmen muß. Dies gilt insbesondere für Sklavenarbeit. Jeder Versuch, andere als traditional eingelebte Leistungen aus appropriierten Arbeitern herauszupressen, stößt auf traditionalistische Obstruktion und könnte nur durch die rücksichtslosesten und daher, normalerweise, für das Eigeninteresse des Herrn nicht ungefährlichen, weil die Traditionsgrundlage seiner Herrenstellung gefährdenden Mittel erzwungen werden. Fast überall haben daher die Leistungen appropriierter Arbeiter die Tendenz zur Kontingentierung gezeigt, und wo diese durch die Macht der Herren gebrochen wurde (wie namentlich in Osteuropa im Beginn der Neuzeit) hat die fehlende Auslese und das fehlende Eigeninteresse und Eigenrisiko der appropriierten Arbeiter die Entwicklung zum technischen Optimum obstruiert. – Bei formaler Appropriation der Arbeitsstellen an die Arbeiter ist der gleiche Erfolg nur noch schneller eingetreten.

2. Der im letzten Satz bezeichnete Fall ist typisch für die Entwicklung des frühen Mittelalters (10.-13. Jahrhundert). Die »Beunden« der Karolingerzeit und alle andern Ansätze landwirtschaftlicher »Großbetriebe« schrumpften und verschwanden. Die Rente des Bodenbesitzers und des Leibherrn stereotypierte sich, und zwar auf sehr niedrigem Niveau, das naturale Produkt ging zu steigenden Bruchteilen (Landwirtschaft, Bergbau), der Erwerbsertrag in Geld (Handwerk) fast ganz in die Hände der Arbeiter über. Die »begünstigenden Umstände« dieser so nur im Okzident eingetretenen Entwicklung waren: 1. die durch politisch-militärische Inanspruchnahme der Besitzerschicht, und – 2. durch das Fehlen eines geeigneten Verwaltungsstabes geschaffene Unmöglichkeit: ihrerseits die Arbeiter anders denn als Rentenquelle zu nutzen, verbunden – 3. mit der schwer zu hindernden faktischen Freizügigkeit zwischen den um sie konkurrierenden partikularen Besitzinteressenten, – 4. den massenhaften Chancen der Neurodung und Neuerschließung von Bergwerken und lokalen Märkten, in Verbindung mit – 5. der antiken technischen Tradition. – Je mehr (klassische Typen: der Bergbau und die englischen Zünfte) die Appropriation der Erwerbschancen an die Arbeiter an die Stelle der Appropriation der Arbeiter an den Besitzer eintrat und dann die Expropriation der Besitzer zunächst zu reinen Rentenempfängern (schließlich auch schon damals vielfach die Ablösung oder Abschüttelung der Rentenpflicht: »Stadtluft macht frei«) vorschritt, desto mehr begann, fast sofort, die Differenzierung der Chancen, Marktgewinn zu machen in ihrer (der Arbeiter) eigenen Mitte (und: von außen her durch Händler).


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