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Wie nach der neueren Musik sich die Seele bewegen soll

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Wie nach der neueren Musik sich die Seele bewegen soll. — Die künstlerische Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark aber undeutlich, als „unendliche Melodie“ bezeichnet wird, kann man sich dadurch klarmachen, dass man ins Meer geht, allmählich den sicheren Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem wogenden Elemente auf Gnade und Ungnade übergibt: man soll schwimmen. In der bisherigen älteren Musik musste man, im zierlichen oder feierlichen oder feurigen Hin und Wieder, Schneller und Langsamer, tanzen: wobei das hierzu nötige Mass, das Einhalten bestimmter gleichwiegender Zeit- und Kraftgrade von der Seele des Zuhörers eine fortwährende Besonnenheit erzwang: auf dem Widerspiele dieses kühleren Luftzuges, welcher von der Besonnenheit herkam, und des durchwärmten Atems musikalischer Begeisterung ruhte der Zauber jener Musik. — Richard Wagner wollte eine andere Art Bewegung der Seele, welche, wie gesagt, dem Schwimmen und Schweben verwandt ist. Vielleicht ist dies das wesentlichste seiner Neuerungen. Sein berühmtes Kunstmittel, diesem Wollen entsprungen und angepasst — die „unendliche Melodie“ — bestrebt sich, alle mathematische Zeit- und Kraft-Ebenmäßigkeit zu brechen, mitunter selbst zu verhöhnen; und er ist überreich in der Erfindung solcher Wirkungen, welche dem älteren Ohre wie rhythmische Paradoxien und Lästerreden klingen. Er fürchtet die Versteinerung, die Kristallisation, den Übergang der Musik in das Architektonische — und so stellt er dem zweitaktigen Rhythmus einen dreitaktigen entgegen, führt nicht selten den Fünf- und Siebentakt ein, wiederholt dieselbe Phrase sofort, aber mit einer Dehnung, dass sie die doppelte und dreifache Zeitdauer bekommt. Aus einer bequemen Nachahmung solcher Kunst kann eine große Gefahr für die Musik entstehen: immer hat neben der Überreife des rhythmischen Gefühls die Verwilderung, der Verfall der Rhythmik im Versteck gelauert. Sehr groß wird zumal diese Gefahr, wenn eine solche Musik sich immer enger an eine ganz naturalistische, durch keine höhere Plastik erzogene und beherrschte Schauspielerkunst und Gebärdensprache anlehnt, — welche in sich kein Maß hat und dem sich ihr anschmiegenden Elemente, dem allzuweiblichen Wesen der Musik, auch kein Maß mitzuteilen vermag.