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Wie Frankreich triumphiert

Das siegreiche Deutschland hat nach dem Jahre 1871 wohl das schauerlichste an chauvinistischer Literatur geleistet. Der einzige Georg Herwegh hat prophetisch vorausgesehen, was dieser Sieg zu bedeuten haben würde, hat das Hurraspiel nicht mitgespielt, und es ist bezeichnend, dass selbst ein so geschulter Kenner wie Georg Brandes diese Opposition eines Abseitigen nicht verstanden hat. Wenn in der Geibel-Literatur überhaupt von Kriegsopfern die Rede ist, so werden die Kadaver mit dem Opernglanz und Glast getröstet, für den sie angeblich gefallen sind.

Das geschlagene Deutschland hat nach dem Jahre 1918 wohl das schauerlichste an Revanche–, Rache–, Mord- und Totschlag-Literatur geleistet. Auch hier werden die unschuldigen und für das pompöse Nichts gefallenen Menschen zur Propaganda benutzt: sie können sich ja nicht mehr wehren … Das siegreiche Frankreich des Jahres 1918 hat sicherlich seine chauvinistische Literatur wie andre Länder auch. Nun scheint mir aber die ledergebundene Literatur für den Geisteszustand eines Volkes nicht übermäßig bezeichnend zu sein. Herr v. Unruh ist – in totaler Verkennung seiner dichterischen Fähigkeiten durch die Snobs der Internationale – ein gutes Propagandamittel im Ausland, charakteristisch für weite Kreise in Deutschland ist er nicht. Bezeichnend sind das Kino, die Singspielhalle, die Sechserliteratur.

Das Kino? In Paris läuft ein Film: ›Tragödie auf See‹, darin wird eine Seeschlacht gezeigt, zu der das italienische Marineministerium das Bildmaterial gegeben hat. Es ist grausig. Kreuzerkanonade, Einschläge, schließlich Untergang eines österreichischen großen Schiffs, der schwere Stahllaib senkt sich, Hunderte von Matrosen klettern wie kleine Tiere darauf herum und springen schließlich ins Wasser, wo sie aufgefischt werden. Das ist nicht gestellt.

Die Texte: »In genau derselben Exaktheit und Bravour rückt die feindliche flotte zum Kampf aus.« Und: »Die feindliche Besatzung tut ihre Pflicht und wankt nicht.« (Als sie untergehend stirbt, wird gezeigt, wie eine italienische Schiffsbesatzung präsentiert und grüßt – das ist Kriegskitsch, aber wenigstens wird der Gegner nicht gehöhnt.) Diese Texte durchgehen den ganzen Film. Zum Schluß, wörtlich: »Sorgt dafür, Völker, dass sich solche Schrecklichkeiten nicht mehr wiederholen!«

Und dieser Film – der Filmverleiher wird das zu werten wissen – ist hier bis in die allerkleinsten Kinos hinuntergegangen und wird überall beklatscht, bejaht, macht gute Häuser.

Das Kino steht nicht allein. Das Varieté zeigt unter vielen solcher Nummern eine, die vor ein paar Jahren in Paris und in der Provinz öffentlich deklamiert wurde. Sie heißt; ›Tu n'as que les nuits pour dormir‹, handelt vom unbekannten Soldaten und folgt hier in einer freien Übertragung.

Man darf gewiß solche Zeichen nicht überschätzen. Aber dass in einem siegreichen Volk diese pathoslose Betrachtungsweise möglich, dass überhaupt denkbar ist, Volksdeklamatoren, die doch gewiß nicht gegen ihr Publikum und gegen ihren Verdienst arbeiten werden, solche Verse aufsagen zu lassen, dass sie dafür nicht hinausgeprügelt, sondern vom Volk, von den Arbeitern, vom kleinen Mann und seiner Frau, beklatscht und bejubelt werden: das gibt doch zu denken. Besonders uns, die wir in den Varietés aller Arten, im Wintergarten, in der Scala, von den kleinem ganz zu schweigen, den schauerlichen, schwitzenden, dämlichen Komiker haben – und was von ihm hören? Wie er die alten Zeiten, seinen Kaiser und den Parademarsch herbeisehnt, wie er die Republik, die Welschen und das Pack der Feinde anpöbelt, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, dass drüben dieselben Leute leben wie seine Eltern. Hier liegt eine Verschiedenheit in der menschlichen Sphäre vor, die erschreckend ist. In Paris gibt es einen Journalisten, Clément Vautel, der ist so etwa der Auburtin des kleinen Mannes. Er schreibt, graziös, nicht sehr tief, leichthin, jeden Tag das auf, was die Portiers und die Delikateßwarenhändler schrieben, wenn sie schreiben könnten: die gemeine Meinung. Der hat vor vier Jahren eine Unterhaltung der Soldatenleichen geschrieben, die da in Verdun für den Unbekannten Soldaten ausgelost wurden. »Na«, sagt der eine, »du bist da nun also für den Arc de Triomphe ausgelost. Junge, ich möchte da nicht liegen: da ziehts ja! Und dann so allein! Man kann sich nicht mal unterhalten!« Das steht in einem Blatt mit Riesenauflage, alle Welt freut sich an dieser Desillusionierung des offiziellen Ruhms, und keinem fiele ein, nach einem Staatsanwalt zu schreien, der auch gar nicht wüßte, was er da zu tun hätte.

Das wertlose und verlogene patriotische Gegreine in Deutschland – von den obersten Richtern bis herunter zu Rudolf Herzog, von den Universitätsprofessoren und dem Reichsausschuß für Leibesübungen über den Alpenverein hinweg bis zur letzten Skatrunde: wo ist da ein Funke Menschlichkeit?

Der Franzose, der dieses kleine Gedicht geschrieben hat, widmet es einem Kameraden, der in der Champagne verschwunden ist; und ohne sich vor den Fehlern eines plutokratisch organisierten Staates wie Frankreich zu verschließen, schämt man sich die Augen aus dem Kopf, nicht, ein Deutscher zu sein – aber diese Deutschen als Landsleute zu haben.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 17.02.1925, Nr. 7, S. 244.