Zum Hauptinhalt springen

Schutz vor Schall

Unsere Häuser sind fürs Auge gebaut. Da sind zwei, drei, vier Zimmer – aber es ist gar nicht wahr – sie sind nur für das Auge da. Das Ohr wohnt in einem einzigen Raum: nämlich in einem Haus, dessen gesamte Geräusche es in sich aufsaugen muß. Dagegen kann man keinen ›Anti-Lärm-Verband‹ gründen – hier ist etwas anderes am Werk.

Es soll nicht davon gesprochen werden, dass es Mieter gibt, die die Geduld ihrer Mitmieter auf eine harte Probe stellen: Rücksichtslose, die kein Gefühl dafür haben, dass es nicht so sehr lustig ist, stundenlange Grammophonmusik, Hundegebell und Füßetrampeln zu ertragen. Aber schließlich kann man Menschen nicht verbieten, zu leben – und Leben ist Lärm. Daß es vermeidbaren Lärm gibt, ist sicher – wie aber schützen wir uns gegen den unvermeidlichen?

Ich glaube, dass man heute falsch baut: nämlich anachronistisch. Die alten Wohnungen, die etwa um das Jahr 1860, 1850 gebaut sind, weisen zum Teil solidere Mauern und festere Wände auf als die Häuser von heutzutage – die wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen damals gebaut worden ist, haben sich eben geändert, und die Rabitzwand ist nicht nur eine Allegorie der Zeit. Aber diese alten Häuser waren auch für andere Menschen bestimmt – für weitaus ruhigere Leute, für Familien, die viel stiller lebten, als wir.

Nun ist aber sicher, dass die Empfindlichkeit der Menschen gewachsen ist – sie sind nicht ›nervöser‹ geworden, sondern hellhöriger, schneller in der sinnlichen Auffassung; der Aufnahmeapparat des Organismus ist differenzierter, was das äußere Leben angeht; er wird mehr in Anspruch genommen, ist also früher abgenutzt, häufig überanstrengt. Die Architekten nehmen gar keine Rücksicht auf diese veränderte Gesamtlage des heutigen Menschen – sie bauen immer noch wie vor hundert Jahren, und sie bauen, was die Dichtigkeit der Wände angeht, schlechter als vor hundert Jahren.

Die sind aus Karton, aus Pappe, aus gar nichts. Der moderne Mieter in einem großen Haus hört vielerlei Leben mit. Das ist nicht nur störend; es ist ein falsches Prinzip der Lebensführung – es ist sinnlose Belastung der Nerven. Der Lärm, den die ›andern‹ machen, ist nicht abzustellen: man kann Kinder nicht aus dem Fenster hängen, Klaviere nicht verbrennen, die Wirtschaft vielleicht etwas leiser und sehr viel zweckentsprechender führen, aber kaum viel leiser. Resultat:

Kaum jemand, von den sehr reichen Leuten abgesehen, lebt sein eigenes Leben, was das Ohr anbetrifft. Er lebt das Leben seiner Nachbarn mit. Er muß mit ihnen aufwachen und mit ihnen zu Bett gehen; er muß hören (also einen Teil seiner Energie und Nervenkraft draufgeben), wenn sie ihre Wohnung säubern; er muß mit ihnen singen, mit ihnen Klavier spielen, mit andern weinen und jauchzen … Fremder Rhythmus zieht unfehlbar mit – auch dann, wenn man es gar nicht empfindet. »Ich höre das nicht mehr«, ist ein schiefer Satz – mit den Ohren vielleicht nicht. Lärm frißt.

Da es nun nicht möglich ist, an Stelle von Miethäusern alte Ritterburgen aufzuführen, so schreit die lärmende Zeit meines Erachtens nach einem schallerstickenden Medium bei der Konstruktion von Häusern. Es ist doch ein Unfug, wenn für die Miete, die im Budget jedes Arbeitenden eine große Rolle spielt, nicht einmal Ruhe eingekauft werden kann – wenn man von der Gnade, vom Zufall, vom guten oder bösen Willen der Nachbarn abhängt; wenn nicht nur der geistige Arbeiter, der zu Hause tätig ist, sondern auch der ermüdete Geschäftsmann abends nicht die Ruhe findet, ohne die kein tätiges, kraftvolles Leben denkbar ist: jeder Mensch braucht ›schöpferische Pausen‹. Dafür gibt es aber keine Architektur.

Mit ›gegenseitiger Rücksichtnahme‹ ist es nicht getan, ich sagte es schon. Der Häuserbauer muß anders denken, wenn er baut: er zeigt uns die Häuser, wenn wir einziehen sollen; er ist nicht mehr dabei, wenn wir drin wohnen. Und viel wichtiger noch als das, was wir so schön ›Komfohr‹ nennen, scheint mir die Lärmabdichtung der Wohnungen, die fast völlig fehlt. Ein gut Teil von allgemeiner Nervosität, Verärgerung, schlechter Seelenverdauung ist auf dies Konto zu schreiben: mit Prozessen, Hausordnungen, einstweiligen Verfügungen ist da wenig erreicht. Die Häuser sind falsch gebaut.

Es gibt, soweit ich weiß, heute schon Mittel, durch Korklagen und gepolsterte Türen den äußeren Lärm wenigstens etwas fernzuhalten – aber diese Mittel sind noch viel zu teuer. Die Rabitzwände schützen nicht – jeder von Ihnen hat schon einmal ein neues Haus gesehen, wenn es halb fertig dasteht: die Böden, die Decken sind fingerdünn, ein paar Planken … und die Eisenkonstruktion und die Röhren tragen den Musik-Lärm, den Hunde-Lärm, den Wirtschafts-Lärm vom ersten bis zum vierten Stockwerk. Hier sollte der neue Architekt einsetzen.

So, wie es ihm in Deutschland gelungen ist, den Ornamenten-Kitsch zu entfernen und glatte, äußerlich zweckentsprechende Häuser zu bauen, die, soweit ich Europa kenne, zu den besten und schönsten des Kontinents gehören, so sollte er auf Mittel sinnen, uns wirklich Wohnungen zu geben und nicht nur äußerlich für das Auge abgegrenzte Hohlräume einer Scheune. Und wir sollten diese Mittel verlangen – gute Kräftedisposition ist ein Zeichen fortschreitender Erkenntnis und einer hohen Kulturstufe. Was mancher von uns durch Zufall hat, das sollten alle haben: Ruhe, eine wirklich abgeschlossene Wohnung und Schutz vor Schall.

Peter Panter
Vossische Zeitung, 15.01.1928.