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Ein moderner Humorist

Eine gut sitzende Definition für »Humor« gibt es bekanntlich nicht. Für einen deutschen Durchschnittshumoristen dürfte es mehrere geben. Lebewesen, das einen gewöhnlichen Vorgang etwa aus dem Bereich der bürgerlichen Küche mit der Terminologie einer Staatsaktion umständlich erzählt. (Beispiel: »Das länglich gestopfte Volksnahrungsmittel, auch gemeinhin ›Wurst‹ genannt, neigte sich, vom Schwergewicht dazu veranlaßt, langsam der Tischkante zu, wo der vierbeinige, zum Gärtner bestellte Bock, oder vielmehr Hund, diesem Ereignis ein freudiges, durch keine Würde getrübtes Wedeln entgegenbrachte.«) Zweitens: Schriftsteller, der zur Freude des überlegenen Großstadtlesers »ulkige Typen«, meist aus der Kleinstadt, erfindet, die es nicht gibt. (Beispiel: »Delikateßwarenhändler Bulke begrüßte den Briefträger Posauke schon von weitem, als er ihn den kleinen Marktplatz überqueren sah, mit aufgeregtem Winken. Er kam fünf Minuten später als gewöhnlich – hatte er einen Brief von Alice Bomberling? Das war die große Frage.«) Besonders fauler Typus: der überlegene Betrachter mit der ranzigen Sentimentalität. Beispiele zu Haufen. Steht genau einen halben Millimeter über seiner Umgebung, insbesondere über seiner Verwandtschaft, die er mit verräterischem Haß verfolgt, weiß fatal in dem Muff kleinbürgerlicher Kreise Bescheid, gebärdet sich aber in stillen Abendstunden als unverstandener Goethe. Sein Humor ist ein sogenannter Postamts-Humor: ein Postamt weiter gilt er nicht mehr. Nun wollen wir zu Stephen Leacock übergehen.

Von diesem Amerikaner erscheinen im Verlag Williams u. Co. zu Charlottenburg zwei Bände in der Übertragung von E. L. Schiffer-Williams: »Humor und Humbug« und »Abenteuer der armen Reichen«. Die Leser der Vossischen Zeitung kennen viele Proben. Es lohnt, mit diesem Mann intimer bekannt zu werden.

Stephen Leacock ist ein Kollektiv-Humorist. Er gehört, wie der große Sinclair Lewis, der Verfasser von »Babbitt«, zu den Leuten, die die Mechanisierung der Welt begriffen haben, und über deren Werken das schöne Wort des Kritias stehen könnte: »Zur Masse gehört immer einer mehr, als jeder glaubt.« Will sagen: die modernen angelsächsischen Humoristen, auch Wells, wenden endlich ihre theoretische Kenntnis der modernen Gesellschaftsform auch auf den Humor, auf sich selbst, auf ihre Opfer an: es gibt bei ihnen keine mittelalterlichen Könige mehr, sondern nur Produkte der gemeinschaftlichen Erziehung, des gemeinschaftlichen Kinos, der gemeinsamen Geschäfte – mit dünnen Abschattierungen. 99 v. H. der Masse werden von der dazugehörigen Gruppe getragen: der Rest ist Privatleben. Es ist auch danach.

Sehr lehrreich, solche Bände zu lesen. Unsere Leute haben gemeinhin den Größenwahn. Ich spreche nicht einmal von jenen deutschen Problemen, die nur bei einer Jahresrente von 20000 Mark – etwa in einem Sanatorium – gedeihen, das Gros leidet noch an der Vorstellung, es gäbe so etwas wie eine urwüchsige Persönlichkeit, wo doch nur Wälder wachsen, aber keine Dorfeichen mehr. Das Treiben erinnert an das ausgezeichnete Wort einer berliner Schauspielerin, die von einer Kollegin sagte: »Sie ist von traditioneller Eigenart.« Sie sind es – alle miteinander.

Leacock nicht. Sie werden bei der Lektüre merken: es gibt da Schwächeres und Stärkeres. Der Band »Abenteuer der armen Reichen« scheint mir nicht so bezeichnend zu sein wie der andere, und das hat einen einfachen Grund. Leacock kennt die Leute nicht so genau – er hat die Oberfläche abgetastet … er ist aber kein Reicher. Schiller konnte die Schweiz schildern, ohne sie gesehen zu haben (ich bin aus Deutschland seit über einem Jahr heraus und weiß daher nicht, ob man Schiller heute schon wieder verreißt oder noch lobt) –: unmöglich, eine Gesellschaftsschicht von heute zu schildern, wenn man ihr nicht angehört hat, angehört oder ein Genie ist. Diese reichen Leute sind außerordentlich witzig kritisiert, aber weniger gut geschildert. Es sind keine reichen Gedanken: es sind Gedanken, die sich ein Wohlhabender über reiche Leute macht. Ohne Neid – aber ohne innere Zusammengehörigkeit. So sind seine satirischen Modelle alle zusammen immer nur reich, nichts als reich, einen ganzen Band hindurch reich. Es genügt nicht, scheint mir.

Der Band ist also nur amüsant. Aber der andere, »Humor und Humbug«, das ist blitzender Leacock, unsere Zeit, unser aller Humor. Spiegel, Brennglas, Mikroskop und tiefere Bedeutung. Twain hats versucht und begonnen – Sinclair Lewis und Leacock haben vollendet.

Leacock nennt bescheiden ein Kapitel »Alltagsfreuden und Leiden«. Aber wir haben keinen andern Tag als Alltag. Welchen tiefen Klang bekommt auf einmal das schöne Lied, das man übern See abends singt: »Alle Tage ist nicht Sonntag – alle Tage gibts keinen Wein … « Eben darin bestehen in der Tat unsere Alltage, dreihundertfünfundsechzig im Jahr. Leacocks Fotograf, Zahnarzt, Schneider (eine besonders gut gelungene Fotografie), sein Barbier – es sind unsere Zahnärzte, Schneider, Barbiere – und nichts ist lustiger als die besonders in Deutschland verbreitete Neigung der Berufe, sich sofort unisono aufzulehnen, wenn ein Unabhängiger ihre Mittelmäßigkeit so schildert, wie sie ist. Sie machen da keine Unterschiede: beschuldige die Rendanten der Steuerverwaltungen sämtlich der Unehrlichkeit, und sie werden mit Recht ihre Interessenvertretung in Bewegung setzen, eine so törichte Verleumdung aus der Welt zu schaffen. Sage aber so ganz nebenbei, wie Leacock es tut, dass die Maschine der einzelnen Berufe leer läuft, klappernd, seltsam verzaubert-idiotisch, nur zivilisiert: und der Kongreß des Reichsverbandes Nordfränkischer Hühneraugenoperateure wird dir einen geharnischten Protest ins Haus flammen, dass dir die Augen tränen. Vor Freude.

Neben Chaplin-Streichen, neben dem jungenhaften Spaß, der bei den Amerikanern besonders kräftig blüht, das schönste Kapitel: »Jedermann und seine Freunde. 1. Sein Chef. 2. Sein Prediger. 3. Sein Bridgepartner. 4. Seine Gastgeberin. Aber 5. Sein kleiner Sohn.« Zwölfseiten und eine ganze Welt. Vom Chef – Leser, schließ die Augen und sags auswendig auf, bevor ich es dir sage – »Ein gemeiner Kerl. Ich sage das natürlich ohne Bosheit und Vorurteil … Kleinlich, ja, das ist das Wort für ihn … Mehr als seine Kleinlichkeit reizt mich aber seine Unfähigkeit. Er ist absolut unmöglich … Wie der Mann je zu seiner Stellung gelangt ist, das ist mir gänzlich rätselhaft. Außerdem könnte er sie überhaupt nicht einen halben Tag behaupten, wenn wir andern nicht einfach alles für ihn täten.« Das muß ich doch schon mal irgendwo gehört haben? Hugo, mein alter Chef: kennen Sie diese Melodie? – Der Prediger ist für die Deutschen gesellschaftlich keine so populäre Figur, der Bridgepartner wäre unserm Verständnis durch den Skatpartner näherzubringen – die Gastgeberin ist ein für allemal festgelegt : »Das Dumme bei einer solchen Frau ist eben, dass sie nicht die richtigen Leute zu ihren Gesellschaften einlädt.« (Man beachte, wie darin immanent die selbstverständliche Voraussetzung steckt: Ich selbst bin natürlich der Richtige!) Und dann: »Aber fünftens Sein kleiner Sohn« – – das ist so geliebt, dass man das Papier streicheln möchte, auf dem es gedruckt steht. Diese Mischung von wirklicher Zuneigung, Beschränktheit und Affenliebe, diese schrankenlose Bewunderung eines Mannes, der sonst an der ganzen Welt kein gutes Haar läßt, aber hier ist auf einmal die ganze Kritik flöten, weils ihm selbst zustößt, diese Mischung von Rührung und bösem Spott, die einen überkommt: nach Bergson, Jean Paul, Schopenhauer und Demokritos weiß ich immer noch nicht, was Humor eigentlich ist. Aber dies ist welcher.

Und es ist moderner Humor, weil Leacock nicht mehr so tut, als lebten seine Figuren allein auf der Welt, weil er endlich einsieht, dass die Trennung »Ich und die andern« eine optische Täuschung ist, weil er nicht so sehr christlich sich selbst im Nächsten als vielmehr die andern in sich selbst sieht. Auch ich bin eine Fabrikware, pfeift dieser Humor. Und weil er alles, was geschieht, mit hunderttausend oder mit zehntausend oder auch nur mit upper ten multipliziert, wodurch die Geschichte gleich ein anderes Gesicht bekommt und die berühmte Quantität in die berüchtigte Qualität umschlägt: deshalb ist es ein guter 1925 er. Ein amerikanischer Rudolf Steiner betört eine Milliardärsfrau und ihren Salon. »An diesem Abend wurde über fünfzig Eßtische hinweg die Natur des ›Bahee‹ besprochen und vergeblich versucht, sie den Ehemännern klarzumachen, die zu dumm waren, sie zu verstehen.«

Der Mann scheint mir ein Wegweiser. Wir tappen in finsterer Nacht umher, kommen schließlich an einen Wackelpfahl, klettern hinauf, zünden ein Streichholz an und lesen da wirklich: Zum Humor am Leacockberg. Ich denke, dass der Weg dahin geht. Und so fern es mir liegt, etwa wie der selige Spengler der Dichtergeneration Fleißaufgaben zu stellen: es wäre unser Humor, von unserer Zeit, in unserer Sprache – wenn sich einer aufmachte, das Individuum der Epoche zu zeichnen, das noch lange keines und das längst keins mehr ist.

Peter Panter
Vossische Zeitung, 26.07.1925.