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Aristide Bruant

Eine Legende ist noch einmal aufgestanden. Der Dichter Aristide Bruant, der vor vierunddreißig Jahren der Ruhm des alten französischen Cabarets war, Aristide Bruant, der das soziale Cabaretchanson geschaffen hat, der Mann, dessen Bild, in schwarzen Samthosen und roter Schärpe um den Leib, noch bei uns herumspukt, Aristide Bruant, den Steinlen auf die Plakate gezeichnet hat: Aristide Bruant singt in Paris.

Für wenige Tage ist er in einer großen Singspielhalle aufgetreten, zwischen dressierten Pferden und englischen Clowns und Tänzerinnen.

Es ist ein sehr alter Mann, der da herauskommt; sein Gesicht hat eine leise Ähnlichkeit mit Paul Wegeners Zügen, manchmal erinnert er an Rittner, und um den Mund gleitet mitunter ein Zug von Ironie (besonders, wenn die Leute Beifall rufen), wie ich ihn bei dem sprechende Maximilian Harden oft gesehen habe – seine Stimme ist nicht mehr so mächtig, aber man versteht ihn noch in der letzten Ecke des großen Raumes. Man versteht ihn –? Viel, viel mehr.

Er singt ›A Batignolles‹ und ›A la Bastoche‹, jene alten Lieder, die von der Lyrik der Gegend um den pariser Festungsgürtel, die ›fortis‹ singen diese pariser Lieder, wo die topographische Schlußzeile genügt, um ein ganzes Heer von Assoziationen heraufzubeschwören. (Deutsch nicht zu kopieren. ›Auf'm Rummelsburger Kiez‹ oder ›Hinten, in Weißensee‹ gibt das nicht wieder.) Hier ist der Name das Lied. Er singt:

Il était né près du canal,
Par là … dans l'quartier d'l'Arsénal,
Sa maman, qu'avait pas d'mari,
l'àppelait son petit Henri …

Unauslöschlich ist das mit den traurigen, mattgetönten Bildern Steinlens für uns verknüpft, eine eintönige Musik begleitet das Lied. Er sagt einen Monolog von dem kleinen Händler, der Bleistifte vertreibt. Es ist die soziale Lyrik der neunziger Jahre, im Grunde noch sehr stark bürgerlich, nicht in dem heutigen Sinne revolutionär, sehr religiös gefärbt; wenn man genau hinhört, brummt die Orgelstimme eines Chorals mit, und oft genug tritt ja ein von den opportunistischen Lehren nicht verfälschter Christus auf, der wahre Freund der Armen. Es ist die regnerische Luft der Vorstadtstraßen, in denen abends spärliche Laternen brennen, Kreuz und Schafott liegen gleich nah, und alle Tragödien der Messerstiche und Frauenzimmergeschichten enden im Spital der Universitätsklinik. Man hat das tausendfach nachgeahmt, und fast immer erfolglos und snobistisch. Die kalte, gefühlsabgewandte Note eines wissenschaftlichen Bolschewismus ist in diesen Gesängen noch nicht zu spüren (weshalb sie auch nicht so gefährlich waren wie ruhige nationalökonomische Werke) und abgesehen von der geistigen Bewaffnung dieser Revolutionäre hat Paris sich geändert. Paris, in dem immer noch so viele Literaten die Stadt der Apachen und der ungeahnten Nachtmöglichkeiten sehen … Das ist endgültig vorbei. In die neuen Schilderungen, selbst in die Carcos, mischt sich ein gutes Stück Oper hinein. In Wirklichkeit sind die Dinge halb so heroisch. (Von den neueren deutschen Künstlern steht Walter Mehring an Kenntnis und an Fähigkeit der Einfühlung dieser alten Literatur am nächsten; er fast ganz allein hat sie wirklich modernisiert.)

Er singt. Heute noch, nach so langer Zeit. Im ›Gil Blas‹, dem Papa der deutschen Zeitschrift ›Simplicissimus‹, findet sich in der Nummer zwei unter dem 5. Juli 1891 der erste Beitrag Aristide Bruants: ›Au bois de Boulogne‹ mit einer bunten Zeichnung. Er sang in den Kneipen des Montmartre, der damals noch keine Fremdenglasur hatte, und er war in diesem Lande der Chansons immer literaturfähig.

Manches ist noch lebendig. Wie sonderbar aktuell klingt: ›A Biribi – à Biribi!‹ heute, wo alle Welt in Frankreich von der Abschaffung dieser unmenschlichen Militär-Straflager in Afrika spricht. Die Musik hat einen straffen militärischen Rhythmus – die Stimme des Sängers hackt unerbittlich in die militärische Autorität.

Bruant singt. Und weil die Franzosen wissen, was Tradition ist, so tun sie ihn nicht zum alten Eisen – hier gibt es nicht diese dumme wegwerfende Geste, die besagt: »Ich bitte Sie – der Mann ist passe!« – sondern die Franzosen fühlen zwar sehr wohl, dass es das heute nicht mehr gibt, aber sie fühlen auch, dass Bruant der Ausdruck seiner Zeit, seiner Epoche, seines Paris von damals gewesen ist, das er in der Weltliteratur unsterblich gemacht hat. Und weil die Franzosen das fühlen, sind sie dankbar.

Denn nun wird auf einmal der ganze Saal lebendig. Bruant fragt, ob sie mitsingen wollen. Ah, sie wollen wohl! Die Leute setzen sich behaglich auf ihren Sesseln zurecht, viele schmunzeln, es geht los. Er hat ein Lied angekündigt, das alle auswendig wissen. Es ist: ›A Belleville – Ménilmontant‹. Die ältesten Herren um mich herum summen mit und singen mit; nicht nur die Refrainzeilen: ›A Belleville‹ und ›A Ménilmontant‹, sondern alle Strophen durch. Bis! Bis! – Es ist ihre Jugend, die da gesungen wird, ihre jungen Jahre, ihre Liebschaften und ihre sorglose Zeit. Eine ganze Stadt singt mit – das Paris von 1890. Bis! Bis! Er ist nicht vergessen.

Bis Bruant will nicht mehr. Er brummelt etwas vor sich hin, verbeugt sich sehr feierlich und geehrt und geht rasch hinter den Vorhang. Er weiß, dass er alt ist. Unvergessen aber und unausgelöscht ist die Erinnerung an den großen Künstler und echt französischen Sänger.

Peter Panter
Vossische Zeitung, 07.01.1925.