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T'en fais pas – viens à Montparnasse!

Neulich abends – zehn Minuten vor dem göttlichen Clown Grock – stand ein französischer Chansonnier auf der Szene und sang seine kleinen dummen Lieder. Es war nichts Berühmtes, und mit seinem Geist war es auch nicht weit her. Aber zum Schluß, als es dunkel im Saal wurde und der helle Scheinwerfer ihn blau umzuckte, da sang doch der ganze Saal begeistert mit, und der Mann hatte seinen dicken Applaus. Warum ?

Es war weiter nichts vor sich gegangen, als dass er ein Lied gesungen hatte, das so anfing: »T'en fais pas – viens à Montparnasse … « – »Mach dir nichts draus – komm nach Montparnasse … « Na und –? Das ist doch weiter nichts; was sollen wir damit anfangen, nun gut, wir wollen nach Montparnasse kommen – wozu teilt er uns denn das mit –?

Kein Mensch dachte darüber nach. Da war ganz etwas anderes. Da war: Heimat.

Diese kleinen Lieder gibt es in allen großen Städten der Welt, diese dummen kleinen Lieder, in denen nichts weiter steht als vielleicht die halbe Andeutung einer Liebesgeschichte, ein paar einfache Reime, und dann als Refrain und Clou: ein Ortsname. »Das war in Schöneberg – im Monat Mai« und »T'is a long way to Tipperary« und »T'en fais pas – viens à Montparnasse … «

Kein Zufall, dass diese Art Lieder im Kriege so unendlich populär geworden sind, denn in ihnen war Heimat. Ja, darüber kann man lachen – aber es ist doch so. Da haben nun große Dichter Nationalepen gedichtet, in denen die ganze Seele ihres Volkes weint und lacht – da sind dickleibige Romane erschienen, echt deutsch und echt englisch und echt amerikanisch – und wenns dann zum Klappen kommt und einer ist fern von zu Hause und hat Sehnsucht –: dann singt er so einen Bumsschlager aus dem Varieté oder aus der Operette.

»T'en fais pas – viens à Montparnasse«, das sind die lauen Sommerabende, wo er mit ihr untergefaßt vom Cinéma nach Hause ging, und wo sie noch so über den Mann an der Litfaßsäule lachen mußten – »T'en fais pas – viens à Montparnasse«, das ist der strahlende Ball und die erste Rose; »T'en fais pas«, das ist Paris mit den Autohupen, die nach dem Ton noch so einen kleinen, atemschöpfenden Seufzer von sich geben, die schnellen, kleinen Wagen mit den rubinroten Schlußlichterchen; »T'en fais pas«, das ist Heimat, gewohnte Ecken, Luft und Wolken, die man kennt – alles ist es.

Da gehen sie in die Tropen, nach China und Indien und der Insel Bali – ganz weit weg. Und soweit ist ja auch alles schön und gut. Aber auf einmal, an einem stillen Nachmittag, kommt ihnen so eine dumme Operettenmelodie in den Sinn, die sie gar nicht mehr loswerden. »Tipperary« oder »Schöneberg« oder »Montparnasse« – irgendein Stadtviertel, das sie kaum kennen, in dem sie vielleicht nie gewesen sind … Und auf einmal ist alles wieder da, die ganze Heimat, die Stadt, jener Rhythmus, der eben nur da anzutreffen ist, und sie haben Sehnsucht und denken an vielerlei und singen ein kleines, dummes Lied.

Peter Panter
Die Dame, Mai 1925, Nr. 17, S. 16.