Fleiß

Fleiß. (Schöne Künste) Die Bestrebung, ein Werk der Kunst auch in den kleinsten Teilen mit der äußersten Aufmerksamkeit vollkommen zu machen, folglich jede kleinste Schönheit zu erreichen und die geringsten Fehler oder Mängel auszubessern*). Der Fleiß gehört demnach zur Ausführung und Ausbildung, wovon bereits in besonderen Artikeln gesprochen worden. Weil die größten Schönheiten eines Werks der Kunst in großen Gedanken bestehen, welche die Vorstellungs- und Begehrungskräfte mit starken Schlägen angreiffen, so kann ein Werk eine starke Wirkung tun, an welches kein Fleiß ist gewendet worden. Ein Werk, dessen größte Wirkung von Hauptteilen herkommt, darf auch nur in den Hauptteilen vollkommen sein, weil man bei dem starken Gefühl der Vollkommenheit auf die Kleinigkeiten nicht sieht. Wer große und sehr merkwürdige Dinge zu erzählen hat, der erweckt große Aufmerksamkeit und macht starken Eindruck, wenn er gleich auf die Kleinigkeiten der Rede, die beste Wahl der Redensarten, der Wörter, der Töne, der Stimme und der Gebährden gar nicht sieht. Der Maler oder Bildhauer, der uns eine Figur oder ein Bild darstellt, das durch die besten Verhältnisse des Körpers, durch eine sehr edle Stellung und durch einen großen Charakter rührt, braucht nicht auf Kleinigkeiten der Ausbildung, nicht auf die höchste Schönheit der Färbung oder des Glatten, nicht auf die Richtigkeit in den geringsten Falten des Gewandes oder andere Nebensachen zu sehen: er gefällt hinlänglich. Und diese Beschaffenheit hat es mit allen Werken der Kunst, die in ihrer Erfindung und in ihren Hauptteilen groß sind; der äußerste Fleiß kann da schaden, wenigstens ist er unnütze.

Hingegen ist er in den Werken oder Teilen derselben nötig, deren Vollkommenheit aus vielen kleinen Verhältnissen, aus subtilen Vergleichungen herkommt, von welcher Art alle feinen Gegenstände, alles Kleine, Niedliche, alles, dessen Wesen aus der Sammlung oder Zusammenfaßung vieler kleinen Teile besteht, sind.

Die Wirkung des Fleißes ist demnach das Feine in jedem kleinsten Teile des Werks. Wenn Wahrheit und Richtigkeit da sind, so kann das Feine noch hinzukommen. Ein Marmorbild kann die Figur mit voller Wahrheit und Richtigkeit darstellen, so dass es einem, der sie aus einer gewissen Stellung betrachtet, nicht möglich wäre, etwas daran auszusetzen, sie ist aber nicht fein poliert, die Umrisse sind nicht bis auf die kleinsten Züge der Linien ausgeführt, alsdann ist nicht der äußerste Fleiß daran gewendet. Eben so kann ein Gemälde dasjenige, was es vorstellen soll, vollkommen vorstellen, ohne dass jeder Strich des Pinsels in die nächsten verfließt, ohne dass jedes kleine Glied der Figuren, jede Falte des Gewandes, jedes Blatt an Bäumen so ausgeführt sei, dass es einzeln betrachtet in allen seinen Teilen vollendet sei. So fehlt auch diesem der Fleiß.

Hieraus lässt sich abnehmen, in was für Fällen der äußerste Fleiß unnütz oder gar schädlich sei und wenn er ein nötiges Mittel zur Vollkommenheit werde. In den Dingen, die für das Gesicht gemacht sind, folglich in allen bildenden Künsten ist der Fleiß unnütze, wenn das Werk der Kunst weit aus dem Auge soll gesetzt werden; denn da verlieren sich alle kleinen Teile. Es wäre vollkommen unnütz, in einem Bilde, das auf eine hohe Säule oder auf ein Gebäude gesetzt wird, alle feinen Züge des Gesichts, alle Falten der Haut, alle zarten Erhöhungen und Vertiefungen, völlig auszudrücken. Man weiß gar wohl aus der Geschichte der beiden Bildhauer in Athen, dass in solchen Fällen der Fleiß schadet, weil er die Wirkung des Ganzen hindert. Wer ein Deckengemälde in ein hohes Zimmer nach Mignaturart oder nur nach der gewöhnlichen Art kleiner Staffeleigemälde ausführen wollte, würde dem Auge, das weit vom Gemälde steht, nichts Reitzendes vorlegen, wenn die Figuren noch so groß wären; denn die Stärke der Farben, welche in der Nähe hinreichende Wirkung tun, verlieret sich in der Entfernung; was aber von ferne her stark wirken soll, muss auch stark und für die Nähe grob und rohe sein.

Eben dieses muss man auch für die Gegenstände bemerken, die zwar das Auge in der Nähe hat, die aber in Vergleichung anderer auf demselben Gemälde weit entfernt sind.

Zweitens ist der Fleiß unnütze, wenn ein Gegenstand bloß im Ganzen genommen wirken soll. Gesetzt, eine Landschaft sei in der Natur bloß wegen einer sehr schönen Austeilung des Hellen und Dunkeln oder wegen der schönen Harmonie der Farben angenehm; so hat der Maler seinen Zweck völlig erreicht, wenn er dieses darstellt und hingegen keinen einzigen einzeln Teil, weder in seiner Zeichnung noch besonderen Erleuchtung mit Fleiß ausführt. Eben so unnütz wäre der Fleiß, den ein Tonsetzer auf jede einzele Stimme in einem Chor oder Tutti wenden wollte, da der Gesang im Ganzen wirken muss. Dieselbe Beschaffenheit hat es mit einer Rede oder einem Hauptteile derselben, da die Aufmerksamkeit bloß auf die allgemeine Beschaffenheit einer Sache gehen soll. Wenn man da auf jeden besonderen Begriff Fleiß wenden, jedes einzelne Wort oder jeden einzeln Satz vollkommen fleißig bearbeiten wollte, so wäre dieses eine unnütze Mühe. Der Fleiß, den man in solchen Fällen auf Nebensachen wenden wollte, wäre auch sehr schädlich. Er würde unsere Aufmerksamkeit dem Ganzen entziehen. Wer einen Helden vorstellen woll te, dessen Größe in den Gesichtszügen und der Stellung müsste bemerkt werden, würde seinem Werk schaden, wenn er das Gewand oder die Waffen, so fleißig bearbeiten wollte, dass sie das Auge notwendig auf sich zögen. Es ist demnach eine große Klugheit, den Nebensachen den Fleiß zu entziehen. Dies ist die docta negligentia vieler Alten [Quædam etiam negligentia est diligens. Cic. in Orat.]. Wer in einer Rede, darin von einer sehr wichtigen Angelegenheit gehandelt wird, eine solche Zierlichkeit, einen solchen Klang und solche Feinigkeit der Ausdrücke brauchen wollte, dass die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf diese Sache gelenkt würde, der müsste seinen Zweck notwendig verfehlen.

Wir können also überhaupt diese Regel festsetzen, dass der Fleiß überall schädlich sei, wo er die Aufmerksamkeit von der Hauptsache abzieht, es sei, dass sie auf Nebensachen oder gar von dem Werke auf den Künstler und dessen Bearbeitung, gegen die Absicht gelenket werden.

Wenn ein Redner sich über eine Anklage rechtfertigen und beweisen wollte, dass er ein redlicher Mann sei, so würde er seines Zwecks verfehlen, wenn seine ganze Rede so künstlich und so fleissig wäre, dass der Zuhörer nur darauf Achtung gäbe. Auch da ist der Fleiß schädlich, wenn er in Trokenheit und Mühesamkeit ausartet; denn beide sind der Leichtigkeit und Freiheit entgegen. In allen kleinen, artigen und in bloß ergötzenden Gegenständen ist der Fleiß gut, wenn er nur mit hinlänglicher Freiheit und Wirkung des Ganzen verbunden wird, wie in den Werken eines G. Dow. und Fr. Mieris.

 

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*) Characterem felicis Ästhetici coronat correctionis studium (limæ labor et mora) seu habitus protensa attentione in pulcre informatum opus, quantum possis, minores, minutorum etiam ejus partium perfectiones augendi, tollendi imperfectiones, aliquantula phænomena, citra detrimentum totius. Baumgarten Ästhet. §. 97.


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