Fassung. (Schöne Künste) Jeder besondere Zustand des Gemütes, der den Vorstellungen und Handlungen einen besonderen Ton gibt. Wenn Haller sagt:
Ein wohl gesetzt Gemüt kann Galle süße machen, Da ein verwöhnter Sinn auf alles Wermut streut;
so zeigt er die Wirkung zweier einander entgegen gesetzter Fassungen an; der ruhigen, die sich mehr zu angenehmen als unangenehmen Vorstellungen lenkt; und der verdrießlichen, die geneigt ist, alles von der widrigen Seite zu betrachten.
Es ist eine der wichtigsten, obgleich überall in die Augen fallenden Beobachtungen, dass die Urteile der Menschen und die Eindrücke, welche die Sachen auf sie machen, also ihr Thun und Leiden vornehmlich durch die Fassung bestimmt werden. So wie derselbe Mensch von dem Geschmack der Speisen ganz anders urteilt, wenn er hungrig als wenn er satt ist, so beurteilt und empfindet man allgemein jede Sache nach Beschaffenheit der Fassung, darin man ist.
Dieses hat nicht nur bei den gemeinen Seelen statt, die nie nach wohl überlegten Begriffen, sondern bloß nach Eindrücken handeln; auch der verständigste Mensch, der welcher die Stimme der Vernunft laut und vernehmlich hört, lässt sich oft durch die Fassung hinreißen.
Wir wollen diese merkwürdige psychologische Erscheinung hier nur in Rücksicht auf ihre Wichtigkeit in Ansehung der schönen Künste betrachten. Bei Verfertigung der Werke der Kunst ist die Fassung des Künstlers und bei ihrer Wirkung die Fassung derer, auf deren Gemüter man wirken will, von großem Gewicht.
Wer mit irgend einiger Aufmerksamkeit auf sich selbst, Arbeiten die Nachdenken erfordern, getan hat, der weiß, wie sehr die Gemütsfaßung, in welcher man arbeitet, alles erleichtert oder schwer macht. Sich in die zur Arbeit erfoderliche Fassung zu setzen, ist bei jedem Geschäft der erste und wichtigste Punkt; und die Leichtigkeit dieses zu tun, ist kein geringer Teil des Genies und das, was ingenium versatile genannt wird. Man erleichtert sich die Fassung, wenn man die Aufmerksamkeit von allen anderen Dingen als dem vorhabenden Geschäft abzieht und dasselbe eine Zeitlang, ehe man an die Ausführung geht, wenn es auch nur ganz summarisch oder aus einem allgemeinen Gesichtspunkt geschieht, beständig vor Augen hat; welches um so viel leichter geschieht, wenn man erst irgend eine interessante Seite desselben entdeckt hat. Ein hoher Grad der vorteilhaften Fassung ist die Begeisterung, von deren Einfluss an seinem Orte gesprochen worden.1 Wenn der Künstler hierin nicht glücklich gewesen, so wird sein Werk nie vollkommen sein.
Eben so wichtig ist die Fassung derer, auf welche die Gegenstände der Kunst wirken sollen. Wer sich in einer vergnügten Laune befindet, den kann man leicht zum Lachen bringen; alles was man vor ihm sagt, hat doppelte Kraft. Demnach muss in jedem Werk der Kunst etwas liegen, was diese Fassung hervorzubringen vermag. In der Musik sucht man dieses durch Vorspielen oder Präludiren zu erhalten; in der Rede durch den Eingang, in einigen Gedichten durch die Ankündigung, in allen Arten der Gedichte und der Reden, so wie auch in allen Gemälden, durch den Ton des Vortrages. Gemälde von sehr ernsthaftem Inhalt müssen schon von weitem, ehe man noch etwas darin unterscheiden kann, das Auge durch einen ernsten Ton rühren, so wie ein Gewitter von weitem durch eine dunkle, drohende Luft angekündigt wird.
Der Redner kann beim mündlichen Vortrag die Fassung seiner Zuhörer am sichersten dadurch bewirken, dass er selbst in dem Ton der Stimme, in der Stellung, in den Gebärden und Bewegungen die Fassung vollkommen ausdrückt. Es liegt eine sehr sympathetische Kraft in dem lebhaften Ausdruck einer natürlichen Fassung. Wir können uns, wenn wir einen von Herzen vergnügten oder durchaus bekümmerten Menschen sehen, selten enthalten, wenigstens einigermaßen uns in dieselbe Fassung zu setzen. Die große Kraft, die eine solche Fassung dessen der redet, seinen Worten gibt, kann keinem Menschen unbemerkt geblieben sein. Wer einen schreckhaften Vorfall gleichgültig oder gar vergnügt erzählt, läuft Gefahr, dass ihm niemand glaubt; der aber in schreckhafter Fassung eine Lüge hervorbringt, findet leicht Glauben. Der Grund dieser Sympathie ist leicht zu entdecken. Der Mensch hat einen natürlichen Hang sich jede Sache, die seine Aufmerksamkeit an sich gezogen, so klar als möglich ist, vorzustellen.2 Wenn wir also einen Menschen von irgend einer Empfindung gerührt sehen, so wollen wir auch einen klaren Begriff von seinem Zustand haben; (wenn nur sonst nichts da ist, das die Aufmerksamkeit davon ablenkt) diesen aber erhalten wir nicht besser als wenn wir dieselbe Empfindung haben, die er hat. Daher entsteht also eine Bestrebung der Seele sich in dieselbe zu setzen. Nur muss die Fassung, darin wir andre sehen, nichts unnatürliches oder widersinnliches haben; denn dieses wird uns anstößig und verhindert jene Bestrebung, davon gesprochen worden ist, gänzlich. Wenn wir einen Lustigmacher bei ernsthaften Dingen in einer lustigen Laune sehen, so sind wir sehr entfernt, in seine Fassung zu treten.
Es ist demnach eines der wichtigsten Talente des Redners, dass bei dem mündlichen Vortrag alles, was man an ihm sieht und von ihm hört, eine dem Inhalt seiner Rede natürliche Fassung ausdrücke: dadurch rührt und überredet er mehr als durch das was er sagt. Wie er aber dazu kommen soll, kann ihm nicht durch Regeln gezeigt werden. Man empfehle ihm überhaupt, wenn er Gelegenheit hat, große Redner zu hören, auf die Fassung in die sie sich setzen können und auf die große Kraft derselben vorzüglich acht zu haben und auch im gemeinen Leben, auf den Ton der Stimme, auf Stellung und Gebärden der Redenden genau zu merken. Dieses Studium muss der Redner als seine Experimentalphilosophie mit großem Fleis treiben. Er wird oft bei den ungelehrtesten Menschen in besonderen Fällen eine Kraft zu überreden finden, die ihm wichtige Lehren geben wird und wird das Studium seiner Kunst in dem Umgang mit eben so viel Vorteil treiben als in seinem Kabinet.
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1 S. Begeisterung.
2 S. Klarheit.