4. Die ersten Prinzipien der Naturwissenschaft


Die ersten Prinzipien der Naturwissenschaft liegen im vorigen schon mitbegründet: zunächst

a) diejenigen der Lehre von der reinen Bewegung (Phoronomie), welche die Logik der Physik darstellt, wie die Geometrie die Logik der Mathematik ist.

Dadurch, dass Leibniz Raum und Zeit lediglich als Ordnungen der Dinge, demnach als etwas bloß Relatives auffaßte, trat er in Gegensatz zu der Naturphilosophie Newtons und der Newtonianer oder, wie er wohl auch sagt, »christlichen Mathematiker« (H. More, Clarke u. a.), welche Gottes Wirken nur in einem leeren oder absoluten Raum für möglich hielten. Alle Körper sind nur Erscheinungen, selbst die Bewegung ein bloß relativer Begriff. An sich, d.h. vom logischen Standpunkt sind darum auch alle Theorien über das Bewegungsverhältnis zweier oder mehrerer Körper zueinander, z.B. das kopernikanische und das ptolemäische Weltsystem, gleichwertig. Der Vorzug und die größere Wahrheit der einen gegenüber der anderen beruht lediglich auf ihrer Brauchbarkeit zur Erklärung der gegebenen und Voraussage der künftigen Erscheinungen.

b) Die Natur muß allerdings nach den Regeln der mathematischen Mechanik erklärt werden. Aber die »große Grundlage der Mathematik«, nämlich der Satz des Widerspruchs oder der Identität, wonach A = A ist und nicht = non A sein kann, welcher allein »genügt, um die Arithmetik und die Geometrie, also alle mathematischen Prinzipien abzuleiten«, reicht nicht aus als Fundament für die von der Mathematik unabhängigen physikalischen Prinzipien. Es muß ein anderer Satz, der des zureichenden Grundes, hinzukommen: »dass sich nämlich nichts ereignet, ohne dass es einen Grund gibt, weshalb es eher so als anders geschieht«. »Denn nicht alle Wahrheiten,« sagt er in seinem Specimen dynamicum (1695), »die sich auf die Körperwelt beziehen, lassen sich aus bloß arithmetischen und geometrischen Axiomen... abnehmen, sondern es müssen andere über Ursache und Wirkung, Tätigkeit und Leiden hinzukommen, um von der Ordnung der Dinge Rechenschaft zu geben.« Es ist die »neue Wissenschaft der Dynamik«, die er hiermit begründet. »Denn neben der Ausdehnung und ihren mannigfachen Bestimmungen kommt der Materie eine Kraft oder ein Vermögen zur Tätigkeit zu, das den. Übergang von der Mathematik zur Natur... bildet.« Doch von diesem wichtigen Bestandteil seiner Lehre soll im folgenden Paragraphen noch besonders die Rede sein. Wir verfolgen zunächst seine methodische Grundlegung der Naturwissenschaft weiter.

c) Leibniz hat sein Interesse nicht bloß dem physikalischen Teil, sondern in gleicher Weise auch der Biologie, der Wissenschaft von den lebenden Organismen, zugewandt. Wie läßt sich nun die Eigenart des Organischen begreifen, ohne dass wir den unverbrüchlichen Gesetzen der mathematischen Mechanik, denen alle »Kräfte« unterworfen sind, untreu werden? Denn diese sowie das Kausalitätsgesetz (der Satz vom zureichenden Grunde) stehen unverrückbar fest. So gewiß als 3 x 3 = 9 ist, wird alles durch ein festgestelltes Verhängnis hervorgebracht, hängt alles auf Erden aneinander gleich einer unzerreißbaren. Kette, wie Leibniz in einer seiner noch viel zu wenig bekannten deutschen Schriften in naiv-kraftvoller Sprache sagt. Und auch das Bild von dem Laplaceschen Geiste, das uns durch du Bois-Reymond bekannt ist, wird hier schon gebraucht. »Hieraus sieht man nun, dass alles mathematisch d. i. ohnfehlbar zugehe in der ganzen weiten Welt, sogar daß, wenn einer eine genugsame Insicht in die inneren Teile der Dinge haben könnte und dabei Gedächtnis und Verstand gnug hätte, umb alle Umbstände vorzunehmen und in Rechnung zu bringen, würde er ein Prophet seyn und in dem Gegenwärtigen das Zukünftige sehen, gleichsam als in einem Spiegel« (Hauptschriften I, S. 130). Aber die letzten Worte lassen schon ein neues Problem ahnen, das dann in dem folgenden Satze deutlicher zum Vorschein kommt: »Denn gleichwie sich findet, dass die Blumen wie die Tiere selbst schon in dem Samen eine Bildung haben, so sich zwar durch andere Zufälle etwas verändern kann, so kann man sagen, dass die ganze künftige Welt in der gegenwärtigen stecke und vollkommentlich vorgebildet sey, weil kein Zufall von außen weiter dazu kommen kann, denn ja nichts außer ihr.« Das lebende Wesen unterscheidet sich also dadurch vom Leblosen, dass in ihm die Keime, aus denen es sich in Wechselwirkung mit den von außen kommenden Stoffen und Reizen entfaltet, bereits enthalten bezw. vorgebildet (präformiert) sind. Lebendig heißt dem Philosophen ein materielles Teilchen, sofern es fähig ist, sich zu ernähren, sich fortzupflanzen und fremden Stoff sich anzupassen. Man braucht nur an A. Weismanns Keimplasma-Theorie zu denken, um zu sehen, dass Leibniz sich hier auf dem gleichen Boden mit der modernsten Biologie befindet. Freilich spricht er jedem organischen Wesen auch Empfindung und Bewußtsein zu; aber er nimmt wenigstens keine von außenher wirkende übernatürliche Kräfte an, wie gewisse neueste Naturforscher (Reinke), sondern läßt jeden materiellen Vorgang aus einem vorangehenden materiellen Zustand desselben Dinges »nach mechanischen d. i. verständlichen Gründen« sich entwickeln. Und das Prinzip der Kontinuität, das wir schon auf dem Gebiete der Mathematik wie der Mechanik wirksam sahen, beherrscht auch die Gesamtentwicklung der Lebewesen. Leibniz ist unter anderem »überzeugt«, dass es Mittelwesen zwischen Pflanzen und Tieren »geben muß, und dass die Naturgeschichte sie eines Tages finden wird, wenn sie erst die unendliche Fülle von Lebewesen, die sich durch ihre Kleinheit den gewöhnlichen Untersuchungen entziehen oder sich im Innern der Erde und in den Tiefen der Gewässer verborgen halten, genauer studiert« Er schmeichelt sich, »einige Ideen« zu einer aus diesem Prinzip gefolgerten Philosophie zu besitzen, »aber das Jahrhundert ist nicht reif, sie aufzunehmen« (Vgl. den überhaupt höchst lehrreichen, in Cassirers Ausgabe II 74 ff., 556 ff. zum ersten Male im französischen Urtext und in deutscher Übersetzung veröffentlichten Brief an Varignon.) Danach wären nicht bloß Kant, Herder und Goethe, sondern auch schon Leibniz zu den Vorläufern des Darwinismus zu zählen!


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