1. Verdunkelung des erkenntniskritischen Grundprinzips


Es rächt sich nun, dass Descartes, in stolzem Vertrauen auf die reine Geistigkeit des Intellekts, die sinnliche Anschauung (imagination) von der Begründung der Wissenschaft ausgeschlossen, als unreine Erkenntnisquelle verdächtigt hatte. Sein Begriff des Körpers als der bloßen Ausdehnung bleibt zu einseitig am Mathematischen haften. Ihm fehlt das Denkmittel der intensiven Größe, zu dem doch schon Galilei vorgedrungen war, damit zugleich auch die Begriffe der Stetigkeit, der Gleichförmigkeit, der Krafterhaltung, sowie die moderne Würdigung des Zeitbegriffs. Und nun äußert sich der Rückschlag von selten der vernachlässigten Anschauung. Indem die Realität allein durch die räumliche Gestalt bestimmt wird, wird der Raum zum »Ding, das keines anderen Dinges zu seiner Existenz bedarf«, wie die Definition der Substanz in den Prinzipien I, 51 lautet, desgleichen die Bewegung aus einem erzeugenden Begriffe zu einer Eigenschaft dieses Dinges, und die Ruhe aus einem bloßen Beziehungsbegriff zu dem absoluten Zustand eines starren Ganzen. So wird das Sein, das so viel wie »wahr sein« bedeutete (§ 2), wieder zu jenem Dasein, das nicht bloß durch Platos (I, § 21), sondern durch Descartes' eigenen Idealismus bereits überwunden war. Der Gedanke wird verdinglicht. Das ursprünglich rein erkenntnistheoretisch gemeinte ›Cogito ergo sum‹ erfährt nun seine Wendung ins Dogmatische, indem das reine Selbstbewußtsein (Ich) zur Sache (chose qui pense), das Kriterium zur Substanz gemacht wird. An Stelle des reinen Denkens tritt die Sache, die nicht bloß denkt, sondern die auch urteilt, will und fühlt, für die dann schließlich (6. Meditation) auch der Name, die »Seele« (l'âme), hinzukommt.

Damit verbindet sich ein Herabgleiten von der streng wissenschaftlichen Auffassung, die mit Glück das Beispiel der astronomischen Sonne gegenüber dem trüglichen Schein der Sinnensonne und das von dem Stücke Wachs, welches trotz aller Veränderung seiner Farbe, Gestalt, Größe usw. ein gedehntes, biegsames oder bewegliches Etwas bleibt, verwandt hatte, zu der Berufung auf den gesunden Menschenverstand, auf die unmittelbare »Erfahrung« der »Nichtphilosophen« Eine von dem Bewußtsein unabhängige, vor aller Erkenntnis vorhandene Welt des »Wirklichen « erscheint. Gegen die von ihm selbst begründete mathematische Gesetzlichkeit werden jetzt die »Tatsachen« der äußeren Wirklichkeit ins Feld geführt, deren wahrhafte Existenz die sinnliche Erfahrung uns gewährleistet. Diese aber setzt bekanntlich äußere körperliche Gegenstände voraus, von denen sie ihre Eindrücke erhält, wie das Wachs seine Form vom Siegel oder Petschaft. So wird die erleuchtende Sonne der universalen Erkenntnis (S. 8) zum bloßen Spiegel irgendwelcher äußeren Dinge. Die Einheit der Erfahrung wird wieder zerrissen in die Zweiheit von Subjekt und Objekt, Ich und äußerer Natur, reinem Denken und sinnlicher Anschauung. Der letzteren (imagination) wird das gesamte Gebiet des Materiellen, somit der Naturwirklichkeit zugewiesen, während dem ersteren (intellection) schließlich nur die »innere« Erfahrung und die metaphysischen Probleme, d.h. vor allem die Lehre von Gott und der Seele, anheimfallen. In den Meditationen soll nach ihrem Titel ausdrücklich »das Dasein Gottes und die Unterscheidung der Seele vom Körper« bewiesen werden.


 © textlog.de 2004 • 14.11.2024 11:46:37 •
Seite zuletzt aktualisiert: 30.10.2006 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright