1. Psychologie
(Buch III der Ethik)
Das dritte Buch der Ethik: De origine et natura affectuum gibt eine Naturgeschichte der Gefühle, die von Johannes Müller als das Beste in dieser Art gepriesen wird. Die meisten meinen, so beginnt Spinoza, die Affekte seien unabhängig von den allgemeinen Naturgesetzen und würden durch die freie Willkür des Menschen bestimmt, wie noch der berühmte Descartes glaubte. Sie wollen die Handlungen der Menschen lieber verabscheuen oder belachen als verstehen. Diese werden sich wundern, dass ich es unternehme, auch die Fehler und Torheiten der Menschen more geometrico zu behandeln. Aber die Natur und ihre Gesetze sind immer und überall die gleichen. Und so »werde ich«, schließt die Vorrede, »die menschlichen Handlungen und Begierden ebenso behandeln, als ob von Linien, Ebenen oder Körpern die Rede wäre«.
Wir handeln, wenn etwas in oder außer uns geschieht, dessen adäquate Ursache wir sind, d.h. das aus unserer Natur allein »klar und deutlich« begriffen werden kann. Wir leiden, wenn wir nur dessen teilweise Ursache sind. Unter Affekt will Spinoza die Affektionen des Körpers verstehen, durch welche dessen Fähigkeit zu handeln geschwächt oder gestärkt wird, und zugleich (!) die Vorstellungen dieser Affektionen. Denn, obwohl der Körper den Geist nicht zum Denken, noch dieser jenen zur Bewegung oder Ruhe zu bestimmen vermag, so sind sie doch (nach Ethik I und II) eine und dieselbe Sache, nur nach den verschiedenen Attributen betrachtet. Ihr Zusammenhang wird überdies auch durch mannigfache Erfahrungen (das folgende Scholium erinnert u. a. an die Schlafwandler, das Kind, den Trunkenen) bestätigt. Die »Freiheit« besteht nur in unserer Einbildung; die Menschen glauben frei zu sein, weil sie ihrer Handlungen sich bewußt sind, die Ursachen aber, von denen sie bestimmt werden, nicht kennen.
Jedes Ding strebt, soviel an ihm liegt, in seinem Sein zu verharren (in suo esse perseverare), der Zerstörung zu entgehen. Dieses Streben (conatus) heißt, wenn es sich auf den Geist bezieht, Wille, wenn auf Geist und Körper zugleich, Trieb (appetitus), wenn es uns zum Bewußtsein kommt, Begierde. Wir begehren (wollen, erstreben) eine Sache nicht, weil wir sie für gut halten, sondern wir halten sie für gut, weil wir sie begehren. Was das Handlungsvermögen des Körpers stärkt, dessen Vorstellung stärkt auch das Denkvermögen des Geistes. Das Gefühl nun, durch welches der Geist zu größerer Vollkommenheit übergeht, nennen wir Lust (laetitia), das entgegengesetzte Unlust (tristitia). Diese zusammen mit der Begierde sind die drei primären Affekte. Alle anderen, auch die von Descartes als primär bezeichneten (Liebe, Haß, Bewunderung), können daraus abgeleitet werden. Jedes Ding ist imstande, Lust, Unlust oder Begierde in uns zu wecken, desgleichen die Vorausvorstellung desselben und die Rückerinnerung daran. Man freut sich über die Zerstörung dessen, was man haßt, und trauert über die Vernichtung dessen, was man liebt, fühlt Trauer und Freude mit dem Geliebten. Daran reihen sich eine große Anzahl Definitionen aller möglichen Gefühle mit interessanten Begleitbemerkungen, die den Menschenkenner verraten. Es sind ihrer, die zum Schluß noch einmal zusammengestellt werden, nicht weniger als 48; die meisten lassen sich paarweise, mit ihrem Gegenteil zusammen, gruppieren: Begierde, Lust (Freude) und Unlust (Traurigkeit), Bewunderung und Verachtung, Liebe und Haß, Zuneigung und Abneigung, Ergebenheit und Spott, Hoffnung und Bangigkeit, Sorglosigkeit und Verzweiflung, Fröhlichkeit und Gewissensbisse, Mitleid, Gunst und Entrüstung, gute Meinung und Geringschätzung, Schadenfreude und Barmherzigkeit, Selbstzufriedenheit, Demut und Reue, Hochmut und Sichselbstwegwerfen, Ruhm- und Schamgefühl, Sehnsucht, Nacheiferung, Dankbarkeit und Rache, Wohlwollen und Grausamkeit, Zorn, Furcht, Kühnheit, Kleinmut und Bestürzung, Gefälligkeit, Ehrgeiz, Schwelgerei, Trunkenheit, Habsucht, Wollust. Die letzteren vier haben keinen Gegensatz, denn Mäßigkeit, Nüchternheit, Sparsamkeit und Keuschheit sind keine Leidenschaften, sondern bezeichnen eine Macht der Seele.
Spinoza macht gleichwohl keinen Anspruch auf Vollständigkeit in seiner Aufzählung der Affekte; er will nur die vorzüglichsten genannt haben, die sich untereinander wieder in zahllosen Varietäten mit und ohne Namen verbinden können; rein körperliche Affektionen wie Zittern, Lachen usw. hat er mit Absicht von vornherein ausgelassen. Außer den Leidenschaften im engeren Sinne des Wortes (passiones) gibt es noch manche Gefühle, welche sich auf uns, rein als Handelnde, beziehen und sämtlich freudiger Natur sind. Spinoza faßt sie unter der Bezeichnung Tapferkeit (fortitudo) zusammen, die sich wiederum teilt in Seelenstärke (animositas) und Edelmut (generositas), je nachdem sie auf die Erhaltung des eigenen Seins oder auf Förderung anderer geht. Zu der ersteren Art gehören u. a. Mäßigkeit, Nüchternheit, Geistesgegenwart, zu der letzteren Bescheidenheit und Milde. Beide Arten stehen bereits unter der Herrschaft der Vernunft. Es kommt nämlich darauf an, ob wir von den Affekten uns knechten lassen, oder ob wir sie zu zügeln verstehen. Das führt uns zu Spinozas Ethik im engeren Sinne.