5. Das Kriterium des Selbstbewußtseins
Seelisches und körperliches Geschehen sind nur in bezug auf den Gesichtswinkel der Betrachtung verschieden, in der Sache dagegen eins. Alle denkbaren Veränderungen des Organismus vollziehen sich doch an dem nämlichen Lebewesen, und so auch alle Vorstellungen in der einen, individuellen, mit diesem bestimmten Leibe verbundenen Seele, die somit die Gesamtheit der diesem Körper zuteil werdenden materiellen Eindrücke widerspiegelt. So ergibt sich für Leibniz ein tieferes Verständnis der Individualität gegenüber der mehr pantheistischen Auffassung der Aristoteliker seiner Zeit, die er u. a. in der Schrift Über die Lehre von einem einzigen, allumfassenden Geiste (1702) bekämpft. Allein er bleibt bei solchem psychophysischen Parallelismus (letzteren Ausdruck gebraucht er selbst gern) erkenntnistheoretisch nicht stehen; sonst wäre er aus dem Dualismus der denkenden und der ausgedehnten Substanz, mit dem Descartes trotz seines idealistischen Ausgangspunktes endigte, nicht herausgekommen. Sondern in dem in dieser Hinsicht besonders wichtigen Briefwechsel mit dem Cartesianer de Volder über den Substanzbegriff erklärt er gegen Schluß ausdrücklich, dass es keine einfachen Substanzen außerhalb der vorstellenden Subjekte und ihrer Erscheinungen gebe, und an anderer Stelle noch deutlicher: »Ich aber setze überall und durchweg nichts anderes, als wir in unserem Bewußtsein zugestehen... und erschöpfe darin mit einem Schlage die ganze Summe der Dinge... Ausdehnung, Materie und Bewegung sind daher bloße Erscheinungen, die ihre rationale Begründung im Begriffe der Kraft finden; sie sind so wenig Dinge wie das Bild im Spiegel oder der Regenbogen.« Das wahre und einzige Merkmal der Realität der Erscheinungen, das wir verlangen können, ist das, »dass sie untereinander wie mit den ewigen Wahrheiten übereinstimmen« Bewußtsein heißt »Ausdruck der Vielheit in der Einheit« und bezeichnet somit das Grundproblem des Leibnizschen Denkens. Das Ich ist nicht bloß die Verbindungsklammer aller meiner verschiedenen Bewußtseinszustände, sondern auch das beharrende Gesetz in der stetigen Erzeugung der Reihe seiner Erscheinungen. Im Begriffe meines Selbst sind alle die Gedanken des Seins und der Wahrheit, des Einfachen und Zusammengesetzten usw. beschlossen. In diesem Sinne setzt er dem Lockeschen Empirismus mit seinem: Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu den charakteristischen Zusatz entgegen: nisi intellectus ipse.