Der Sozialdemokrat und die Mittel des Staates


Die Idee des Grafen Tisza wird reichlich durch den folgenden sozialdemokratischen Gedanken aufgewogen:

Graf Stephan Tisza ist Montag nachmittag in Begleitung seiner Frau von seiner Geszter Besitzung in der Hauptstadt eingetroffen. Die Ankunft erfolgte im Ostbahnhof. An den Arader Schnellzug war der Salonwagen des Präsidenten angekoppelt worden, die zwei überwachenden Detektives der Grenzpolizei saßen in einem Coupé zweiter Klasse. Im Ostbahnhof wurde Graf Tisza von den Detektives der Budapester Staatspolizei Ritter v. Bialoskursky und Ladislaus v. Nanassy erwartet, die dem Grafen in einem Fiaker zu seiner Wohnung folgten. Um ½5 Uhr nachmittags begab sich Graf Tisza, gefolgt von den Polizeibeamten, die ihn während seines Budapester Aufenthalts ständig zu überwachen haben, zum Ministerpräsidenten, von dem er wieder unter Detektiveeskorte ins Nationalkasino fuhr. Gestern und heute vormittag fuhr Graf Tisza aus seiner Wohnung in das Abgeordnetenhaus, wo er Präsidialgeschäfte erledigte. In einem zweiten Wagen folgte abermals das polizeiliche Ehrengeleite … Woraus wohl deutlich hervorgeht, wie sicher sich Tisza, auf dessen Seite das Volk stehen soll, nun fühlt.

Die Gesinnung steht nicht zu hoch über jener, gegen die sie sich richtet, die Logik tief unter jener, die einem Parlament die Gliedmaßen ausreißt, damit das Herz einem Gesetz zustimme. Daß der Graf Tisza, der nicht nur Polizisten zum Angriff auf andere, sondern auch zum eigenen Schutz braucht, sich nicht ganz sicher fühlt, geht aus der statistischen Aufstellung der Arbeiter-Zeitung »wohl deutlich hervor«. Nicht ebenso deutlich der Widerspruch, in dem die Unsicherheit des Grafen Tisza zu seiner Popularität stehen soll. Es ist wahr, populär muß man bei einer Million sein, sonst ist man nicht populär. Aber um erschossen zu werden, dazu genügt es, dass man bei einem einzigen unpopulär ist. Die Freunde des Grafen Tisza behaupten, er habe sich seine Beliebtheit bei der Majorität dadurch errungen, dass er sich bei der Minorität unbeliebt gemacht habe und umgekehrt. Die Wirkungen seiner Persönlichkeit sollen geradezu Wechselwirkungen sein und so sehr der Ruf »Schuft!« dem Ruf »Eljen!« widerspricht, so erklärt sich doch der eine aus dem andern. Wenn nun eingewendet würde, dass jene, die jubeln, nicht zum Volk gehören, und dass einer, der das Volk »auf seiner Seite« hätte, die Polizei nicht brauchte, so wäre dieser Einwand falsch. Die Liebe des Volkes würde nicht einmal in einem sozialdemokratischen Staat hinreichenden Schutz gegen die Kugel eines Anarchisten bieten, der etwa für die Wiedereinführung der Leibeigenschaft demonstrieren wollte, und der wäre kein Feigling, der, um sich dieser Liebe zu erhalten, den staatlichen Schutz benötigte. Die Verspottung solcher berechtigter Unsicherheit ist nicht sozial, sondern demokratisch. Ebenso wie die Verherrlichung eines Schutzmanns, der sich geweigert hat, den Befehl seiner Vorgesetzten zu vollziehen. Da Nr. 2205 »nicht eine blind drein-schlagende Faust sein wollte«, sondern »wollte, dass sein Kopf zu seiner Hand ja sage«, so könnte es einer Parteidisziplin übel bekommen, wenn ein Parteijournalismus das Beispiel empfiehlt. »Ein Polizist, der ans Gesetz, der ans Recht, der an das Sittliche denkt«, statt an den Befehl zu denken, ist ein Vertreter jener tief unsittlichen, also seicht liberalen Idee, die das Instrument zum Individuum macht und das Hindernis psychischer Entscheidung in die Exekutive verlegt. Es ist antisozial, der Nummer, deren bequeme Einstellung in die Rechnung der Gesellschaft dem sozialdemokratischen Gedanken unentbehrlich ist und deren eigenwillige Belebung schon einem Parteitag unbequem werden kann, »ein Denkmal« setzen zu wollen. Daß sich Nr. 2205 »in einer Zeit, wo jedermann sich gern als Automat fühlt«, als Selbstdenker bewährt hat, darin sollte sich die Minderwertigkeit der Idee nicht vom Lob des Gefühls verkennen lassen. Die Teilnahme an dem Schauspiel, wie einem Automaten das Herz übergeht, steht tief unter dem Niveau der Schwindelgesellschaft, die den Automaten geliefert hat. Wer gegen ein Steuergesetz ist, wird sich in der Anerkennung des Steuerexekutors, der sich weigert es anzuwenden, selbst dann Schranken auferlegen müssen, wenn er den Gewinn davon hat, und der Friedensfreund, der nicht schwachsinnig ist, wird mit dem Krieg auch den Soldaten bekämpfen müssen, der sich weigert, auf den Feind zu schießen. Nur der geschworene Antipolitiker hat das Recht, sich als wohlwollender Betrachter einer zerfallenden Gesellschaft der Auflehnung eines Instruments zu freuen: nicht weil er die Gründe billigt, sondern die Auflehnung. Er darf auch den Gedanken dieser Erscheinung fortsetzen und sich an der Vorstellung laben, dass hundert Polizisten, gegen hundert Abgeordnete, die Gutsbesitzer sind, aufgeboten, hundert gute Posten der schlechten staatlichen Besoldung vorziehen könnten, und dass sohin eine schlechte Regierung ihre Gesetze nicht durchzudrücken vermöchte. Aber das ist eine kapitalistische Perspektive. Nr. 2205 hat vielleicht nicht, Aktualität und Stimmung wie ein Journalist erwägend, die Ertragfähigkeit oder auch nur das gefühlsmäßige Echo der Weigerung berechnet oder bedacht. Aber der heroische Eindruck ist getrübt, wenn der Beamte von jenem belohnt wird, den er mit der Amtshandlung verschont, und Sozialdemokraten sollten vorsichtshalber nur dann applaudieren, wenn sich zufällig ergäbe, dass eine Nummer die schlechte Pflicht nicht einem guten Posten, sondern der Brotlosigkeit geopfert hat.

 

 

Oktober, 1912.


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