Der Dichter der Pippa und des Hannele


der die Verse der drei Engel geschrieben hat und das Gespräch des fiebernden Kindes mit der Vision der Mutter: »Ruhst Du aus, wenn Du müde bist?«, »Hast Du Speise zu essen, wenn's dich hungert?«, hat am Tische der Concordia Trinksprüche über sich ergehen lassen und ausgebracht. Ja, es ist eine mitleidlose Zeit. Die Echtheit braucht nur fünfzig Jahre alt zu sein, und man glaubt ihrs nicht mehr. Aber wir wollen uns lieber sagen, dass es der Dichter der »Klosteruhr« war, der da gefeiert wurde. Das kann man sich schon wieder vorstellen. Der andere hätte, wenn er schon der Lust, sich mündlich gratulieren zu lassen, partout nicht Herr werden konnte und wenn ihn schon Ahnungslosigkeit unter diese Gratulanten führte, die Verpflichtung gehabt, beim ersten Anblick der Elite des geistigen Wien, beim Betreten des Saals, ohnmächtig zusammenzubrechen und sich hinaustragen zu lassen. Absichtlich kann er nicht hingegangen sein. Wenn er etwa eine Tragödie des Geistes schreibt, so ist er doch wahrhaftig nicht mehr auf Milieustudien angewiesen. Er arbeitet doch nicht mehr mit Dialekt. Wie konnte er das aushalten? Welcher Gerhart Hauptmann war das, der sich von Wiener Journalisten anhauchen ließ? Sein Wesen muß Untiefen haben, und deren eine wird zur Siedelung der Gelegenheitsparasiten. Man möchte ihn gegen die Qual der Goldmanns beschützen, und er setzt sich mit den Goldmanns zu Tisch. Er hätte nichts dagegen haben können, wenn sie ihm den eigentlichen Goldmann als Vis-à-vis gegeben hätten. Es muß ein deprimierendes Schauspiel gewesen sein, wie sie ihn da brachten. Er hatte soeben eine Vorlesung gehalten und sich zum fünfzigsten Geburtstag dem Publikum gestellt. Er war den Gratulanten ins Haus gekommen, von Deutschland nach Wien: Hier bin ich, auf den Tag fünfzig Jahre alt. (Bravo-Rufe. »Sehr richtig!« »Noch älter werden!« Redner wird beglückwünscht). Nun hatte er freilich die Weihe für's Bankett. Um 10 Uhr vereinigte sich eine Gesellschaft —. Gerhart Hauptmann kam, flankiert von einem pensionierten Börsenredakteur und einem aktiven Kulissenplauderer. Viele Kommunalredakteure, Lokalerer und Librettisten warteten schon im Speisesaal. Zwischendurch eingestreut das offizielle Österreich. Der Unterrichtsminister persönlich, die Gwiklinski und Milosch v. Fesch, die von Literatur weniger verstehen dürften als ich vom Ressort, die wahrscheinlich wegen der Zusammengehörigkeit gekommen waren (Deutscher Dichter, Deutschland, Deutsch-Österreich) und die hierzulande Stipendien an Juxbasardichter austeilen. Von diesen Herren behauptete der Börsenredakteur Ehrlich, dass sie den Altar der Dichtkunst bekränzen. Herr von Hussarek persönlich also hatte es sich nicht nehmen lassen, zu kommen und zu sprechen. Aber Gerhart Hauptmann muß sich nicht zu viel darauf einbilden, dass ihn ein klerikaler Kultusminister gefeiert hat. Der wäre nicht gekommen, wenn nicht ein Verein jüdischer Journalisten das Bankett veranstaltet hätte. Einer der Anwesenden ernannte ihn deshalb zum Minister für Kultur. Viel bemerkt wurde Trebitsch. Ferner soll das heimische Schrifttum einer Version zufolge auch durch Klinenberger vertreten gewesen sein. Und noch durch andere interessante Profile. Somit war, wie der Börsenredakteur sagte, der deutsch-österreichische Parnaß fast vollzählig erschienen. Die Diplomatie ließ sich durch Münz vertreten. Die Feier begann mit einem Lob des Männergesangvereins: »Die klingende Seele Wiens durfte bei unserem Feste nicht fehlen«. Die Feier endete mit einem Bänkel von Bauer: »Diesmal hatte sich der Satiriker übertroffen; mit dem Schalk ging der ernste Betrachter und Kritiker«. Der Börsenredakteur sagte, dass die Concordia die Ideale Schillers auf ihre Fahnen geschrieben habe. Aber diese Fahnen sind manchmal Bürstenabzüge, die den Banken vor Erscheinen gezeigt werden, und wenn die Banken bei der Lektüre wahrnehmen, dass dort Schiller'sche Ideale stehen, so dürften sie sich das Nichterscheinen sehr viel kosten lassen. Schiller'sche Ideale sind gefährlich für Banken. Die Concordia, wurde gesagt, fördere alles Edle und Gute; sie habe allzeit dem geistigen Adel gehuldigt. Vermutlich ist der geistige Adel des Mendl Edlen von Singer gemeint, der unmittelbar, nachdem er ihn bekommen hatte und nachdem ihm alle Fürsten, Grafen und Minister des Reiches gehuldigt, einen warmen Nachruf für eine verstorbene Koscher-Wirtin erscheinen ließ, der wirklich gut und gediegen war. Was aber den bekannten Aphoristiker Ludwig Karpath anlangt, der immer den Nagel auf den Kopf trifft, wenn er behauptet, dass man sich in einem Konzert nicht laut schneuzen soll, und dessen Ausprüche sich von den Unarten, die er bekämpft, dadurch unterscheiden, dass sie nicht geräuspert, sondern nur gedruckt werden, so ist es ein Unrecht, dass man ihm statt des Adels bloß den Franz Josefsorden geben will und auch den nicht. Will man denn in Österreich immer warten, bis die Künstler alt sind oder sterben? Es braucht lange, bis eine solche Ehrung — ich will mich mit aphoristischer Kürze ausdrücken — eine den Aktenstaub bereits abgestreifte Affäre geworden ist, und es ist zu hoffen, dass dieser Hinweis genügen wird, um einem Großen und Dicken zu der Anerkennung zu verhelfen, die ihm gebührt. Ganz abgesehen davon, dass die Erscheinung aus der Musikgeschichte nicht mehr zu entfernen ist, da Richard Strauß sowohl wie Hans Richter ihn mit »Lieber Freund« ansprechen. Der Börsenredakteur hat die Anwesenheit Hauptmanns benützt, um ausschließlich von der Concordia zu sprechen und ganz plötzlich die Frage aufzuwerfen: »Warum bluten die Herzen und schlagen zugleich? Das kommt, weil sie lieben müssen. (Lebhafter Beifall.)« Man hielt es für ein Wort des Redners, der aber Ehrlich genug war, um diese eines Börsenredakteurs unwürdige Bemerkung auf Gerhart Hauptmann und seinen »Michael Kramer« abzuwälzen. Worauf allerdings die Mehrzahl der Anwesenden fragte: Welcher Kramer? Hierauf hielt Herr Saiten, der Verfasser des »Blauen Helden«, den offiziellen Toast. Er rief: »Wir haben dich lieb, Gerhart Hauptmann!« Dieses Du ist natürlich keine Intimität, sondern nur eine Ehrfurchtsbezeigung. Aber wenn ich der liebe Gott wäre, ich würde Wert darauf legen, dass Herr Saiten vor Leuten Sie zu mir sagt. Der Unterrichtsminister sagte: »Concordia soll ihr Name sein«, und nannte das Bankett »eine Familienfeier«. Er beleidigte also gleich zwei deutsche Dichter auf einmal! Zur Versöhnung nannte er dann den fünfzigsten Geburtstag Hauptmanns einen Markstein in der Entwicklung. Er habe einmal mit Baron Berger über Hauptmann gesprochen, wisse aber nicht mehr, was damals gesprochen wurde, nur so viel wisse er, dass manches der Erinnerung werte Wort fiel. Mehr weiß er aber nicht. Hierauf kam die Zusammengehörigkeit mit dem deutschen Kulturleben, und der Minister trank auf die Gemeinsamkeit des geistigen Bandes. Gerhart Hauptmann sagte, »der Anteil der österreichischen Wärme an seinem Wirken und seiner Eigenart dulde keinen Verdacht«. (Soeben war ihm aus dem Künstlerzimmer der Hut gestohlen worden.) Aber er wolle »alles beiseite lassen, was auch nur im allergeringsten problematisch ist«. Hierauf nannte er die Concordia »aller kulturellen Kräfte Pflegerin«. Und trank auf sie. Wir hatten dich lieb, Gerhart Hauptmann! ... Hierauf sprach der Kulissenplauderer. Er sagte: »Wir sitzen hier am Tisch des Mitleidsdichters«. Darum wolle er »ein klein wenig das Fenster öffnen«. Nicht wegen der schlechten Luft, sondern bildlich: der Krieg soll aufhören! Herr Thimig, Burgtheaterdirektor, sagte, dass die Wiener Kritik »der darstellenden Kunst in Wien die Wege vorzeichne«. Herr Thimig ist Sachse und meints also immer ehrlich. Herr Kalbeck, dessen Sohn er schon engagiert hat, sagte ein Gedicht in schlesischer Mundart auf. Die Wiener Kritik, mecht ma sprecha, zeichnet auch den Theaterdirektoren die Wege vor. Dafür is se aber ooch imgänglich. Nu juju, — nu neenee. Zum Schluß »vereinigten sich alle Teilnehmer am Bankett zu Ovationen«. Natürlich nicht für Hauptmann, sondern für Bauer. Das Weberbänkel riß alle hin, wiewohl sie nicht Hundebraten zu essen bekamen. Auch mich. Das kan au hie baal nimeh a su weiter gihn ... Mir leida's nimeeh! Mir leida's nimmeh, mag's kumma, wie's will!

 

 

Dezember, 1912.


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