Politik und Pathos


Die Arbeiter-Zeitung sagt, Silberer sei von einer Lawine verschüttet worden; die Reichspost sagt, Silberer habe Gelder defraudiert und sei nach Amerika gegangen. Die eine sagt, was sie glaubt, die andere, was sie nicht glaubt, mindestens nicht weiß, täglich, durch ein halbes Jahr. Die eine nennt es pathetisch »Leichenschändung« und sagt, dass die andere einen Toten verleumdet habe. Das wäre nicht so schlimm wie das, was sie wirklich getan hat. Jene ereifert sich gar, als ob diese ihn getötet hätte, um ihn verleumden zu können. Auch das wäre nicht so schlimm wie Verleumdung hinter dem Schutz der Hoffnung, dass ein schneeverwehter Leichnam sein Alibi nicht nachweisen werde. Es gelingt ihm dennoch: also hat die Arbeiter-Zeitung die Wahrheit gesagt. Die Häßlichkeit dessen aber, was die Reichspost gesagt hat, wird gemildert durch Politik. Und das ist die größere Häßlichkeit. Es nützt nichts — die Schweinerei liegt im Vorsatz, Politiker zu werden, und jede Parteigesinnung erfordert die Handhabung dessen, was dem Privatmenschen ein Grauen verursacht. Die Mechanisierung der Gefühlswerte wird dort anerkannt, wo sie Erfolg hat, und darum dürfte die Blamage der Reichspost schmerzlicher sein als die Reue, die von ihr verlangt wird. Politik ist die unbefugte Chirurgie, die den harmlosesten Menschen zum Messerstecher macht. Der politische Erfolg der Arbeiter-Zeitung dürfte ihr näher gehen als die Trauer, und wenn man sie fragte, ob ihr das Leben eines der Ihren wünschenswerter sei oder die »Leichenschändung«, so wäre sie nicht Politikerin, wenn sie zugäbe, dass sie lieber stürbe als mit dem Tod keinen Erfolg zu haben. Das Gräßliche an dieser pathetischen Angelegenheit ist, dass sie so wenig mit dem Pathos zu schaffen hat. Der Erfolg macht nur die Stimme lauter. Infolgedessen überhört die Entrüstung, was sich der Humor nicht entgehen ließe. Dürfte die Arbeiter-Zeitung zugeben, dass hier nicht die Schlechtigkeit einer Parteigesinnung, sondern die Schlechtigkeit der Parteigesinnung bewiesen wurde, dass hier einmal der Punkt erreicht ist, wo die politische Lüge über sich selbst Witze zu machen beginnt, so hätte sie es sich nicht entgehen lassen, kommentarlos die Öffentlichkeit zum Zeugen eines gegnerischen Purzelbaumes zu machen, wie er noch nicht produziert wurde, seitdem eine kopfstehende Politik die Dinge betrachtet. Sie hätten es abdrucken sollen:

»... Noch vor wenigen Tagen hatte das sozialdemokratische Organ den Fall neuerdings mit der Behauptung zu verdunkeln gesucht, Silberer sei in »aufgelöstem« Zustande vom abfließenden Schneewasser in den See geschwemmt worden. Die Auffindung der Leiche Silberers in der Nähe von Alm offenbart die ganze Frivolität dieser Erzählung.

Nunmehr ist, wenn sich die Salzburger Meldung bestätigt, endlich sichergestellt, dass Abg. Silberer einem der vielen alpinen Unglücke, die sich im verflossenen Winter ereignet, zum Opfer gefallen ist. Der mysteriöse Fall ist, nicht zuletzt dank unseren Vorkehrungen, aufgehellt worden.«

Die Reichspost hatte also behauptet, dass Silberer tot sei, und gehofft, seine Leiche werde gefunden werden. Die Arbeiter-Zeitung hatte behauptet, er habe defraudiert, und gehofft, die Leiche werde verschwunden bleiben. Um die Auffindung zu erschweren, behauptete sie dann, Silberer sei in aufgelöstem Zustande abgeschwemmt worden. Sie wollte damit den Tatbestand des Todes verdunkeln, damit man glaube, es liege eine Defraudation vor. Der Reichspost aber war darum zu tun, dass sich der Verdacht des Todes bestätige. In Tagen, wo »selbst die Sozialdemokraten die Hoffnung aufgaben, Silberer doch noch zu finden«, hat sich die Reichspost für verpflichtet gehalten, den vermißten Silberer »zum Objekt peinlicher, aber notwendiger Forschungen zu machen« ... Politik ist Tonfall. Losgelöst von Sinn und Gefühl, spricht sie eine Sprache, die dem, der sie hören will, ins Ohr geht. Gegen die Politik gibt es nur ein Gegenmittel: die Drehkrankheit, der jener verfällt, welcher auf die Idee kommt, sich zwei Parteiblätter zu halten.

 

 

Juni, 1912.


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