Schlichte Worte


Knapp vor dem Weltuntergang hat die Neue Freie Presse noch eine neue, glückliche Formel für das Wesen der Soireen gefunden. Gesetzt wird die Tatsache, dass sich morgen die Tochter des deutschen Botschafters mit einem Legationsrat vermählen wird. Was tut sich da?

Lange vor 9 Uhr fuhren Automobile und Equipagen vor dem Palais vor und hielten unter der Loggia. Damen in prächtigen Roben, Herren in glänzenden Uniformen und im ordensgeschmückten Frack stiegen aus und vor dem Gittertor der Einfriedung drängte sich trotz des kalten Winterabends schaulustiges Publikum. An der Dienerschaft in Galalivree vorbei bewegte sich der ununterbrochene Zug der Gäste in die Empfangssalons, in denen der Botschafter und seine Gemahlin die Honneurs machten.

Das ist von schlichter Sachlichkeit und wirkt nach den impressionistischen Einbrüchen der letzten Jahrgänge, nach der Hinopferung des Besitzstandes der Hof- und Personalnachrichten an eine Platte von Beobachtern wie eine Errungenschaft. Wenn uns der Fasching nichts weiter vorbehält als Damen in prächtigen Roben und Herren in glänzenden Uniformen, wollen wir das Leben noch eine Weile mitmachen. Siehe, da trat der Wiener Männergesangverein an Botschafter Herrn v. Tschirschky mit dem Ersuchen heran, zur Feier des Abends mit einem heiteren Programm beitragen zu dürfen. »Herr v. Tschirschky hat gerne angenommen, und so war eine Elitesängerschar von etwa 50 Herren unter Führung des Obmannes ...« Was geschah da?

Die Konversation, die ungezwungen in den Salons schwirrte, wurde durch die Vorträge der Wiener Meistersänger angenehm unterbrochen ... Nach dem gesanglichen Intermezzo wurde die Konversation wieder aufgenommen.

Und dann?

Um die Teetischchen sammelten sich kleine Gesellschaften und bis nach Mitternacht ertönte Lachen und Plaudern in den Salons.

Hier wird nicht mehr geschildert, was einer beobachtet hat, sondern hier verrät einer, was er weiß. Die Zeitung dient wieder dem Zweck. Wir wollen nicht, dass man uns etwas vormacht, sondern dass man uns informiert. Wie waren die Roben? Prächtig. Und die Uniformen? Glänzend. Und der Frack? Ordensgeschmückt. Der Winterabend hingegen? Oh, brr, man hätte keinen Hund ... Der Reporter beginnt wieder zu schwärmen ... Maul halten, wie war der Abend, nun ... Kalt! Richtig. Das Publikum? Ja das ist nicht so einfach ... Kscht, wie war das Publikum? ... Schaulustig. Gut, weiter. Die Konversation? Ungezwungen ... Das ist bisl zu wenig. Was tat sie? Sie, sie schwirrte. Richtig. Aber was ertönte? Lachen und Plaudern. Gut, ab! Und dass mir keiner von euch wieder daherkommt und eso und eso sagt, weil er nicht weiß, ob er eso oder eso sagen soll, wo doch die Sache ganz einfach eso ist und nicht eso.

 

 

Januar, 1912.


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