Der Fall Goldmann
»Warum dieses Stück nicht in Berlin auf dem Theater Otto Brahms' gespielt worden ist, wie dies für Hauptmanns Stücke die Regel ist, und warum man von Berlin nach Lauchstädt hat fahren müssen, um es zu sehen, wird den meisten Besuchern dieser Premiere wohl nicht recht klar geworden sein ... So bildete denn diese Fahrt nach Lauchstädt einen hübschen Ausflug ins Grüne, aber man fragte sich, weshalb man sie eigentlich hatte unternehmen müssen.«
So sagt Goldmann. Er ist der Mann, vor dessen Erkenntnissen man sich zu dem Ausruf hinreißen läßt: Wo er recht hat, hat er recht! Das Problem einer Eisenbahnbeschwerde der Neuen Freien Presse meistert er wie kein zweiter Geist im heutigen Deutschland. Nachdem man nun gesehen hat, dass er recht hat, wo er recht hat, soll man ihm mit einem deutlichen: Es ist genug, lassen Sie's gut sein, Goldmann! abwinken und ihn von Lauchstädt wieder wegschicken. Nach Berlin. Aber schnell, weil sich sonst seine grenzenlose Klarheit an die Dichtung selbst heranmacht und Gefahr im Verzuge ist, dass der hellste Kopp Deutschlands sich in den verwegensten Kommis, der je die Neue Presse über Kunst bedient hat, verwandle:
»Das Stück ist besser als die Hauptmannschen Stücke der letzten Jahre, es ist nicht so verworren. Man sieht, was der Autor gewollt hat, und wenn es ihm auch nicht immer gelungen ist, seine dichterischen Absichten zu verwirklichen, so kommt er doch wenigstens hie und da der Verwirklichung nahe. Die Charaktere zeichnen sich ziemlich deutlich ab. Manchmal wird auch etwas Hübsches gesagt, wenngleich im allgemeinen der Dialog so armselig ist wie man dies nun schon bei Gerhart Hauptmann gewohnt ist.«
Wenn einer dafür, dass er von Goldmann persönlich beleidigt wurde, ihm Schläge gäbe, so meine ich, er könnte ein egoistischer Schuft sein, der Strafe verdient. Dagegen sage ich: Was ist das für eine hundsmiserable Mißgeburt von heutiger Jugend, die mit ihrer Hauptmannsbegeisterung hausieren geht, und sich beim allerdringendsten Anlaß noch nicht zu dem Mut aufgerafft hat, an dem nüchternsten Klugscheißer, der jahraus jahrein ihren Dichter zu beschmutzen wagt, ein Exempel zu statuieren? Seiner eigenen Ehre Vergütung schaffen, ist günstigsten Falles ein ehrliches Geschäft. Freigebiger ist die Vergeltung fremden Leids. Die nobelste Pflicht, die deutschen Burschen wohl anstünde, wäre: die allgemeine Schmach zu rächen und den zu strafen, der den Freund Aller kränkt. Gewiß, neun Zehntel der Begeisterung, die sich über einen Autor in Briefen und Kritiken ergießt, ist — ich erlebe es — vorweg als Weibersache, als hysterische Erhitzung, die flugs ins Gegenteil umschlagen kann, abzuziehen. Aber sollte denn nicht ein männlicher Rest bleiben und daraus so viel tatfähige Wahrheit zu gewinnen sein, dass ein einziger Beweis von Anhängerschaft einem auf Jahre die Zecken vom Leibe hält? Solange Jugend nicht bereit ist, einem Dichter zu Ehren das staatsgrundgesetzlich gewährleistete Recht der freien Meinungsäußerung durch das Faustrecht zu beeinträchtigen, glaube ich, dass Jugend ein Zustand ist, der weniger Beziehung zur modernen Ansicht hat als das Philisterium zur alten.
August, 1912.