Allerlei Falschmeldungen


(Falschmeldungen aus Scham.) Der Taglöhner Anton H. und Susanne A., die gemeinsam leben, standen heute vor dem Bezirksrichter der Leopoldstadt Dr. Heller wegen Falschmeldung, weil sie sich als Ehepaar gemeldet hatten. Die allein erschienene Frau gab an, dass sie die Meldung als verheiratet machten, da sie, wenn in der Nachbarschaft bekannt geworden wäre, dass sie nur im Konkubinate leben, Verspottungen ausgesetzt gewesen wären. Der Richter verurteilte die Angeklagten wegen Falschmeldung zu je drei Kronen Geldstrafe. — Eine ähnliche Falschmeldung aus Scham hat der Photograph Nicola G. begangen, der sich in einem Massenquartier in der Novaragasse unter dem Namen Milan Milanovic gemeldet hatte. Er wurde bei einer Revision verhaftet. Er gab an, dass er mit seinem Geschäft in Neusatz völlig zu Grunde gegangen und mit den Resten seiner Habe, einigen Kronen, hieher gekommen sei, um hier Stellung zu suchen. Mit Rücksicht auf seine knappen Mittel, es waren bei ihm bei seiner Verhaftung imganzen 24 K gefunden worden, habe er in einem Massenquartier Wohnung genommen. Aus Scham, dass man erfahren könnte, dass er in einem Massenquartier wohne, habe er sich dort unter falschem Namen gemeldet. Bezirksrichter Dr. Wüstinger, dem der Angeklagte heute aus der Haft vorgeführt wurde, konstatierte, dass die polizeilichen Erhebungen ergaben, dass der Angeklagte unbescholten ist, und verurteilte ihn unter Anwendung des außerordentlichen Milderungsrechtes, indem er der Verantwortung des Angeklagten, dass die Falschmeldung keine Täuschung der Behörde beabsichtigte, Glauben schenkte, zu 10 K Geldstrafe. Angekl.: Ich brauche das Geld, mein ganzer Besitz sind die 24 Kronen. — Richter: Sie sind ein unbescholtener Mensch. Sie werden doch lieber die 10 K verschmerzen, als eine Arreststrafe verbüßen? — Der Angeklagte entschloß sich nach einem sichtlich schweren Kampfe, die Geldstrafe zu erlegen. Er wird sodann der Polizei überstellt werden.

Was würde Österreich, das die Falschmeldung eines Kulturstaats, aber nicht aus Scham, sondern aus Gewohnheit begeht, dazu sagen, wenn ein preußischer Richter ihm deshalb die Sudetenländer abnähme? Ich wünsche es ihm nicht, wiewohl es selbst so gern den preußischen Richter macht. Es gibt Sätze, im Gerichtssaal gesprochen, von denen man glaubt, sie müßten noch vor das Ohr eines sterbenden Landesgerichtsrats treten und den letzten Trost verdrängen. »Ich brauche das Geld, mein ganzer Besitz sind die 24 Kronen.« Was wiegt der Erkenntniswert einer Juristenwoche mit faulen Fischen und Humanität dazu neben diesem Satz! Was wiegt alle Rede neben der praktischen Einsicht, die den Armen ärmer macht, weil er sich der Armut schämen wollte? »Sie werden doch lieber…« Aber es gibt noch ein Drittes: Einem Angeklagten, der »nach sichtlich schwerem Kampfe« der Arreststrafe die Geldstrafe vorzieht, die Alternative ersparen, indem man ihm auch die Geldstrafe erläßt! Für die sträfliche Neugierde des Staates auch nur mit drei Kronen zu büßen, ist noch Opfermut. Einem Richter, der dafür, dass er sich für einen Richter ausgibt, den halben Gehalt verlöre, geschähe Recht: und er müßte dennoch nicht ins Massenquartier. Die Vorstellung aber, dass Leute afür bezahlt werden, daß sie die Welt darüber aufklären, der Milan M. sei eigentlich ein Nicola G. und es sei nicht alles Gold was glänzt — schafft Migräne. Die polizeilichen Erhebungen haben ergeben, dass der Angeklagte unbescholten ist, und bewirkt, dass er es nicht mehr ist. Solches sollte den Leumund der Polizei bestimmen.

 

 

Oktober, 1912.


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