Die Postbeschwerde


»Ein Offizier schreibt uns: Sehr verehrte, löbliche Redaktion! Gestatten Sie einem Abonnenten, der täglich die Zeitung mit Interesse liest, einen interessanten Beitrag zu Ihrem Kapitel ›Postbeschwerden‹ beizutragen, welcher augenfällig beweist, dass wir punkto Zopf weit hinter dem Reich der Mitte zurückstehen. Meine Mama erhält am 30. Dezember, 10 Uhr nachts, einen Expreßbrief des Inhalts, sie solle gleich zu ihrer in Ungarn an einen Oberleutnant verheirateten Tochter kommen, da selbe an einer schweren Lungenentzündung erkrankt sei. Meine Mama, die mit ihrer 83-jährigen Mutter zusammenwohnt, packte im Laufe der Nacht alles Nötige ein, schrieb, da sie in zwei Tagen ihre Pension erwartete, eigenhändig eine Vollmacht, adressierte sie an das zuständige Postamt 45, Hetzgasse, worin sie bat, alle Gelder ihrem in Wien verheirateten Sohn, das bin ich, auszuzahlen. Am z. d. kam die Pension, der Briefträger erklärte, ebenso wie das Postamt, die Vollmacht für ungültig, da sie nicht auf einem am Postamte erliegenden Blankette ausgefertigt sei. Ich begab mich in Uniform mit Legitimation hin — alles umsonst. Ein freundliches Achselzucken. Mir wurde nur mitgeteilt, dass der ›ganze Akt‹ bereits an die Direktion geleitet sei, das Geld aber unbedingt nicht ausbezahlt werde, sondern liegen bleibe. Aber auch nach Ungarn könne es nicht gesendet werden, das Geld bleibe liegen. Nun hatte meine Mutter, wie jedermann, am Beginne des neuen Jahres und neuen Monates mannigfache pekuniäre Verpflichtungen, die ich nun gezwungen bin, um meiner Mama weitere Unannehmlichkeiten infolge von unbezahlten Rechnungen zu ersparen, für sie einstweilen von meinem Gelde zu bezahlen. Wie nun, wenn ich nicht in Wien zufällig in Garnison wäre? Ist hier der hohe Schimmel nicht etwas zu scharf gezäumt?«

Mama, ein anderes Weltbild! Ich möchte ins Reich der Mitte, auch wenn es punkto Zopf, oh wie traurig ist das hier, die Post stellt 10 Uhr nachts Briefe zu, in denen so etwas steht, und dann weigert sie sich, Mama, schwere Lungenentzündung, die Post ist schuld, der Brief kam rechtzeitig, aber die Vollmacht war ungiltig, ich habe Fieber, nach Ungarn, wo sie an einen Oberleutnant verheiratet ist, echt österreichische Zustände, alles eingepackt, der hohe Schimmel, wer reitet so spät durch Nacht und Wind, der leibliche Sohn ist gezwungen, einstweilen von seinem Gelde, das muß in die Neue Freie Presse, zu Neujahr, wo alle kommen, auch der Briefträger, der den Brief gebracht hat — Mama, gib mir die Sonne!

 

 

Januar, 1912.


 © textlog.de 2004 • 19.03.2024 07:04:03 •
Seite zuletzt aktualisiert: 15.01.2007 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright Die Fackel: » Glossen » Gedichte » Aphorismen » Notizen