Lessing
hat sich den Concordiaball gewiß auch anders vorgestellt. Dort, wo der Schapsl um das Schicksl wirbt, dürften er und seine Eva, an die Wand gemalt und eine Nacht lang verpflichtet, zuzuschauen, sich als Eindringlinge gefühlt haben. Gegen das Bedürfnis des Herrn Julius Bauer, sich ein Lessing-Denkmal zu setzen, war aber nicht aufzukommen, und so mußte es geschehen, dass eine Gesellschaft, die von Lessing nichts anderes weiß, als dass er den einzigen vorrätigen Reim auf Messing bildet, und die nichts an ihm höher schätzt, als dass er mit dem Vornamen Ephraim geheißen hat, »im Zeichen« dieser bekannten Persönlichkeit ihr spezifisches Ballfest beging. Wie wür dig nun die Anreger des Wiener Lessing-Denkmals ihrer Idee sind, haben sie durch den Almanach bewiesen, den sie zur Ehre des berühmtesten, aber unfreiwilligsten Mitglieds der Goncordia herumgereicht haben. Da Lessing selbst sich zur Damenspende nicht sehr eignet, so haben sich einige literarische Persönlichkeiten zusammengetan, um zu vermitteln. Der Versuch ist so ausgiebig gelungen, dass sich wohl keine Dame finden dürfte, die dem intellektuellen Niveau der Herren Beiträger nicht gewachsen wäre. Herr Auernheimer hat das Glück, in alphabetischer Reihenfolge zuerst berücksichtigt zu werden. Er deutet den Lessing als Kommentar seines eigenen Schaffens, das noch vielfach unverstanden ist. »... Ein großer Schriftsteller«, sagt er von ihm, »der dabei amüsant ist, und — dem man es verzeiht.« Der Gedankenstrich ist ein Seufzer. Herr Auernheimer will sagen, wie ganz anders es ihm ergehe, den man zwar, Gott ja, für amüsant hält, aber —. Nun, nicht jeder hat Zeit, hundertfünfzig Jahre zu warten, man wird bitter, und wenn man so oft Wien mit einer Frau und die Welt mit einer Frau und überhaupt alles in der Welt mit einer Frau verglichen hat, dann will man erhört werden. Immerhin, Herr Auernheimer kann nichts dafür, dass er einen Namen trägt, der ihn zum Vorspiel jedes literarischen Ärgernisses macht. Er ist sicher reinlicher als die Gesellschaft, die ihm bis zum letzten Buchstaben in der Literatur, bis zum Zifferer, nachfolgt. Das B sollte es überhaupt nicht geben, denn es setzt sich in der Regel zu Bettelheim, Blumenthal und Burckhard fort. Was aber Herrn Bahr anlangt, so darf man ja nicht glauben, dass ich ihm zuliebe eine Ausnahme mache. Nur glaube ich nicht, dass er im Alphabet ohne Blumenthal denkbar wäre. Lessing rühmt er nach, er habe zuerst erkannt, »dass all unseres Sinnens und Wirkens Wert im Erstreben, nicht aber im Erreichen der Wahrheit besteht, da jede Wahrheit, kaum erreicht, sich schon wieder als Irrtum enthüllt«. Das ist richtig und Herr Bahr lebt danach. Man könnte indes auch sagen, dass unseres Sinnens und Wirkens Wert im Erreichen der Lüge besteht, da jede Lüge, kaum erreicht, sich schon wieder als Erfolg enthüllt. Herr Doczy dagegen beklagt, dass die Freiheit des Geistes, von der Lessing geträumt, »von seinem Vaterlande noch nicht erreicht sei, wo ein Jude nicht Offizier werden kann«. Als ob es nicht Trostes genug wäre, dass er in Ungarn Sektionschef werden kann! Otto Ernst ist der Mann, der als einziger so beherzt war, den in der Luft des Concordiaballes liegenden Reim »Messing« aufzugreifen und in die Damenspende zu setzen. Herr Falke meint, die Lessings seien uns nötiger als die Nietzsches, die Hellen und Klaren segensreicher als die »Tiefen« und die »Dunklen«. Er setzt diese zwischen höhnische Gänsefüßchen. Aber er wird nicht leugnen können, dass die Tiefen und Dunklen wieder segensreicher sind als die Seichten und Wasserfarbigen und somit die Nietzsches uns immerhin nötiger als die Falkes. Auch als die Fuldas, deren einer — anders als Herr Otto Ernst — die Idee hatte, einmal den Vornamen Lessings zu reimen, aber nicht, wie man erwarten sollte, Gotthold auf Gold, sondern vielmehr Grimm auf Ephraim; denn stets, wenn er nach Luzern kommt und des hohen Pilatus Felsenhaupt — von Wolken umflattert, von Stürmen umschnaubt — wiedersieht, muß er an Lessing denken. Er kann sich nicht helfen. Wie anders Herr Adolf Gelber, der stille Forscher, der die Gedankenwelt zwischen Wilhelm Shakespeare und William Singer bebaut. »Ernahm«, sagt er von Lessing, »die Dummheit, um sie zu töten. Doch als er ihr den Herzstich geben wollte, erkannte er erst seinen Irrtum: sie hatte nämlich nie ein Herz gehabt«. Welch ein Spiel des Gedankens! Fast von Shakespeare! Aber wie? Lessing konnte nicht töten, weil die Dummheit kein Herz hatte? Das ist nicht plausibel. Heute würde ihm der Totschlag glücken: die Dummheit hat einen lokalen Teil. Apropos totschlagen. Herr Stefan Großmann meint, es sei »eine höchst rühmliche Beschäftigung, wir alle neigen leicht zu fauler Friedfertigkeit, Lessing gibt uns unsere angeborene, oft feig verhaltene Rauflust wieder«. Na also, her damit! Aber aus Anarchisten werden Sozialdemokraten, aus Sozialdemokraten Redakteure, aus Redakteuren Theaterdirektoren. Da hilft kein Lessing. Was habe ich mir schon Mühe gegeben, die angeborene, feig verhaltene Rauflust zu wecken; einen Schmarrn hat es genützt. Zum Beispiel bei Herrn Harden (der alphabetisch auch vermöge der Eigenschaft, im Grunewald zu sein, seine Position behauptet). Er ist friedfertig, beschäftigt sich lieber mit dem Thema »Damenwahl« und schreibt: »Die Franziska des Fräuleins v. Barnhelm ist ja nur ein Zöfchen. Dennoch ists nützlich, auch während des kühlen und schwülen Ballgeplauders dem Wort der hellen Magd nachzudenken, das keck behauptet, von keiner Wesenseigenschaft spreche der Mensch so gern, wie von einer, die ihm fehle. Die Ausdrucksform und der Hang, Lebensweisheit zu abstrahieren, sind altdeutsch. Heute antwortet dem Frackwachtmeister, der sich seines innigen Familiensinnes rühmt und mit tastender Zunge seine Dame nach der Zahl ihrer Geschwister fragt, das früh enttäuschte Mägdlein: ›Ja bei uns geht's in fünf Teile ...‹« Aber der Mann irrt, wenn er glaubt, dass ich ihm das übersetzen werde. Viel klarer gibt sich der Schöpfer des Walzertraums, der mit J beginnt. »Auch du hattest« — er ist mit Lessing per Du — »im Ewigkeitskampf um die Erlösung der Menschheit zu dulden! Doch sieh', der Sonnengott peitscht grade aufs erste Gespann!« Und bringt es im Jahr zu 365 Aufführungen. Es ist schön, dass die Librettisten sich der Kollegen erinnern, die als Märtyrer im Ewigkeitskampfe um die Erlösung der Menschheit ihnen vorangegangen sind. Es ist schön. Gerhart Hauptmann aber — den ich beinahe und gern übersehen hätte —, er hat »Und Pippa tanzt« geschrieben: er hätte, als ihn Herr Julius Bauer zur Enquete berief, sagen sollen, sie tanze nicht auf dem Concordiaball. Herr Kerr dagegen, der immer etwas Tänzerisches hat und in dem ich die angeborene, feig verhaltene Rauflust auf eine geradezu niederträchtige Weise geweckt habe, so dass ihm der Totschlag in Form des Selbstmordes gelungen ist, darf sich getrost in der Reihe der Lessing-Gratulanten beisetzen lassen. Er nennt ihn »ein Genie der Anständigkeit«, einen »Drachentöter im Bürgerkleid«. Herr Kerr, dem ich noch etwas vom Sommer her schuldig bin — er wird mich nicht mahnen — und der behauptet hat, dass ich die Neue Freie Presse angreife, weil, und dass ich den Simplicissimus angegriffen habe, um —, Herr Kerr ist kein Genie der Unanständigkeit, nur ein Talent, und ein Bürger im Kleid des Drachentöters. Der Drache aber lebt und nimmt den Kampf mit dem Bürger auf, wenn er Zeit hat und wenns ihm noch Spaß machen sollte, einen zu beachten, der von Scherl entlassen wurde, weil, von Herrn Cassirer angestellt, um, von Herrn Cassirer entlassen, wiewohl, und vom Scherl wieder aufgenommen wurde, warum? Jetzt hat Minor das Wort. Er kann nicht umhin, aus seinem reichen Schatz an literarhistorischen Erfahrungen etwas beizusteuern. Er denkt, zwischen Lessing und dem Concordiaball könne nur das Seminar vermitteln; dann werde jener die Schäbigkeit der Gesellschaft schon nicht merken. Minor richtets ihr bei Lessing, er kennt seine Lebensgewohnheiten. Lessing will absagen. »Ich fürchte, er würde sich auch auf dem Concordiaball mit ein paar klugen Frauen in eine Ecke zurückgezogen oder gar mit ein paar guten Freunden an den Spieltisch gesetzt haben; ganz ungleich Goethe, der im Kreise seiner letzten Liebe, Ulrike Levetzow, auch noch als Siebziger ein Tänzchen wagte.« Und wie hielt es Schiller? Gehn wir, die Sache beginnt öd zu werden, zwanzig Studenten haben belegt, sechzig davon sind eingeschlafen, der Rest sattelt um und will Kunstgeschichte studieren. Wer kommt denn dort? Der Nordau! Was sagt denn der Nordau! Dass Lessing ein pathologischer Schmutzfink war? Nein, der joviale Sanitätsrat der Literatur will bloß — Spaßes halber — Nathan auf Satan reimen. Es gelingt ihm. Weg! Aber er geht nicht. Er reimt noch Fabel auf Babel. Genug! Und noch einmal auf Parabel. Was hat nur dieser eingefleischte Prosaiker, er dichtet ja? Und noch auf Zukunftskonnetabel! Und dann noch justament singen auf gelingen und auf unterfingen, und hochgeschwungen auf nachgerungen, und Volke auf Wolke. Wie ein Ästhet einem Athleten, so sehe ich ihm staunend zu und seufze: Wer das auch könnte! Das ist ja, wie nett, ein Sonett? Es ist gut, Nordau, das Jahr 1912 in der Weltgeschichte bitte auch in der Fasson! Aber jetzt Platz für Saiten! Der kommt mit einem »Gespräch«, aus dem hervorgeht, dass Lessing sowohl Kritiker als Dichter war, und dies gehört sich so. Es ist ein Selbstgespräch, aber kein anregendes. Die Gedanken, die ausgetauscht werden, bleiben in der Familie. Aber an Herrn Wilhelm Singer, der da schreibt: »Lebt wirklich irgendwo ein Sonderling, der neugierig ist, auch meine Meinung über Lessing zu hören, so will ich ihm folgendes sagen: ›Wäre es schon möglich, dass im Garten der Literatur Lessings Schöpfungen jemals zu welken begännen, der erhabene Stolz, das alle Miseren des Lebens nicht achtende unbändige Freiheits- und Selbständigkeitsgefühl dieses breitschulterigen Trägers ewiger menschlicher Ideen, in dem Gelehrtheit, Herzhaftigkeit und Verstand um die Palme rangen — diese werden in ewiger Blüte stehen‹«, habe ich nur die eine besorgte Frage: Zugegeben es gäbe wirklich wo so 'nen Sonderling, und Lessings Schöpfungen würden im Garten der Literatur nicht welken und sein Stolz und sein Freiheitsgefühl in ewiger Blüte stehen — was aber ists mit der Palme? Wächst die im Garten oder steht sie nur so da, so als Dekoration? Herr Singer kann sich der Antwort entschlagen, wenn sie ihm zum Schaden oder zur Schande gereicht. Er behauptet des weiteren, Lessings Tugenden würden »ein leuchtendes Beispiel für alle jene bleiben, denen ein gnädiges Geschick das Talent und die Macht verliehen hat, den Sinn der führungsbedürftigen Menschheit zu leiten und ihr Herz zu bewegen für alle Größe, Güte und Gerechtigkeit.« Eine Frage: Sind hier die Chefredakteure gemeint? Wenn ja, so sage ich nur das eine: Den erhabenen Stolz und das unbändige Freiheits- und Selbständigkeitsgefühl, das die Leitartikel des Neuen Wiener Tagblatts auszeichnet, in Ehren — aber jene reizende Dame, welcher Militär beim Weggehen »Tagblatt« zuflüsterte, wird inständigst um ehrbares Wiedersehen gebeten, und das ist auch meine Meinung! Unter »Rehaugen 862« an die Expedition. Alles weitere wird sich finden.
Februar, 1912.