Der Geront


Herr Oskar Blumenthal ist sechzig Jahre alt geworden. Das war nicht zu verhindern. Natürlich versteht sich wer würde zweifeln selbstverständlich hatte er sichs verbeten und wollte absolut nicht, dass man dieses Tages gedenke. Die Folge ist, dass man gedenkt; dass das Schäkerspiel aufgeführt wird, wie einer »die Flucht ergreift«, um eingeholt zu werden; dass es im Blätterwald vom Kitschmotiv des Jungseins, wenn man alt wird, widerhallt und dass allerorten der Lindau, der noch jünger, nämlich noch älter ist, auftaucht und sich erinnert, wie der Blumenthal noch jünger war und was damals Vielversprechendes an ihm beobachtet wurde, und dergleichen Süßigkeiten mehr. Konditoreimädchen überessen sich am ersten Tag und rühren dann durch dreißig Jahre die Ware nicht an. Die süßen Herren vom Bau delektieren sich nie zu Ende. Man möchte glauben, dass Herrn Lindau endlich einmal vom Herrn Blumenthal übel wird und vice versa, nein, es wird fortgenascht. Und da necken sie sich coram populo, und der Herr Schienther plaudert aus, wie das war, damals, als dem Blumenthal »um Wangen und Kinn noch ein Vollbart wucherte« und er — nun, was noch hatte? Einen »krausen Haarkranz«. Damals verhielt er sich zu Rudolf Gottschall »wie Thersites zu Aias dem Telamonier«. Was, glaubt man, wird aus dem Thersites — nun, was? Ein Nestor! Damals hielt man Oskar Blumenthal für ein Pseudonym des Herrn Paul Lindau; man denke. Es wäre natürlich ein großes Unglück für die Literaturgeschichte gewesen, wenn sich das Mißverständnis nicht bald aufgeklärt hätte und Herr Oskar Blumenthal nicht »als ein Lebewesen eigenster Art« erkannt worden wäre. Ich glaube, dass man später einmal der Vereinfachung halber wieder, und zwar vielleicht Herrn Lindau für ein Pseudonym des Herrn Blumenthal halten und endlich auch diese Chiffre streichen wird. Herr Schienther schildert die Karriere, die Herrn Blumenthal vom Kritiker zum Autor, von diesem zum Direktor führte, und nun sei er zur »vierten Stufe« emporgestiegen, zum Villenbesitzer, der, nicht weit vom Hotel zum Weißen Rössel, »über das Weltganze und seine Teile« sinnen könne. »Der Dichter neigt nun zum Denker.« Gottseidank fällt er nicht. Plötzlich aber lese ich das Wort »Bank der Spötter«. Nämlich, wenn er auch noch immer, so tritt er doch schon, nämlich »in den Rat warnender, mahnender, bedachtsamer und betrachtsamer Geronten. Thersites will sich in Nestor verwandeln«. Hab ich's nicht gesagt? Natürlich verzichtet Blumenthal »ungern auf die leichtsinnigen Vorrechte der Jugend«. Er will um keinen Preis jemals »Altmeister« genannt werden. Trotzdem ist er es. Wieder ein altes Schönbartspiel. Herr Salus will nicht mehr liebenswürdig sein — alle beruhigen ihn und sagen ihm, es gebe überhaupt keinen Menschen, der so liebenswürdig ist wie Salus. Blumenthal will nicht Altmeister sein, nicht Jubilar, nicht Nestor. Sondern er will Falter sein, Biene mit schwarzem Schnurrbart, Schwerenöter, an Kelchen nippend, nämlich an Frauenlippen, kosend, schmecketig. Schienther aber »kann sich nicht helfen, er findet viel Nestorianisches: weise Sprüche in munterer Fassung, allerdings kurz angebunden; ernste Mahnungen an jüngste ›Neutöner‹ und Herbert Eulenberg, Gedanken über Natur und Geschichte und — ganz Nestor — Ansätze zu Erinnerungen.« Überhaupt »ein sanft zum Verzeihen geneigtes Verstehen und ein stilles Augurenlächeln über die Rauflust früherer Tage«. Lindau hat es längst geahnt. Schon als er das erste Manuskript Blumenthals zu Gesicht bekam, dachte er, wie er versichert, »an den Most, der sich absurd gebärdet und doch guten Wein gibt«. Lindau zitiert ziemlich vollständig den Gedanken, an den er schon damals dachte. Er schreibt das Hauptverdienst der Gattin zu, die auf den »jugendlichen Draufgänger in Sturm und Drang« eingewirkt und »ohne die scharfe Eigenart des Satirikers irgendwie zu beeinträchtigen«, in sein Leben Gleichgewicht ... gemütliches Heim, und was man halt so braucht für Parnaß und Familie. (Brautwerbung im deutschen Lustspiel: »Wirste aber auch die scharfe Eigenart des Satirikers nicht irgendwie beeinträchtigen, Mariechen?« — »I, wo werd' ik denn, du blutiger Oskar, du!« Beiseite: »Ich will, ohne dass er es merkt, in sein Leben Gleichgewicht bringen und ihm zu froher und freudiger Arbeit in einem reizend gemütlichen Heim seelische Ruhe und behagliche Stimmung gewähren«. Vorhang.) Abgesehen vom Most zitiert aber Lindau nicht immer vollständig, so sagt er zum Beispiel: »Blumenthal lachte zuletzt, und wer zuletzt lacht ...« Da hörts auf. Offenbar hat er es auch mit der Wendung: »Aber Octavio war mit dem Erreichten noch nicht zufrieden« auf ein Zitat abgesehen. Er hätte wohl auch sagen können: Max aber blieb nicht bei ihm, sondern ging von ihm. Mit dem »Probepfeil« aber habe Herr Blumenthal den Vogel abgeschossen. Und die Gelegenheit, die ihm Blumenthal zu einer so schlagfertigen Bemerkung bot, erklärt schließlich die Sympathien des Herrn Lindau, der seinen Artikel mit den Worten schließt: »Ergo bibamus«. Herr Schienther ließe sich das nicht zweimal sagen. Wer schon hat, will schon. Der Mann hat Ibsen gefeiert und Blumenthal aufgeführt. Er erklärt das. Sie haben sich abends vor einem »von uns beiden gleich treu verehrten goldgelben Trunk aus Böhmerland« — Herr Schienther dürfte sich an Ort und Stelle kürzer fassen — gefunden. Und er verzieh ihm, dass er Blumenthal war und nicht Ibsen. Es dürfte ihn aber interessieren, dass er in seiner Ibsen-Ausgabe den geistigen Horizont des Herrn Blumenthal durch ein Zitat historisch festgestellt hat: »Die ›Kronprätendenten‹ ist eine verfehlte und unreife Arbeit, die aber in Einzelheiten das rege Hineinwirken eines dichterischen Könnens verrät«. Schrieb Herr Blumenthal, als er noch einen krausen Haarkranz trug. Nun ist aber Herrn Schlenther zu sagen, dass man ein Speidel sein muß, um kritische Gegnerschaften ex trinken zu dürfen; sonst schwimmt der Charakter als Bierhansel obenauf, die Persönlichkeit wird auf einen Zug geleert und selbst ein Doppelliter bleibt ohne tiefere Bedeutung. Jawohl, das muß ich dem Herrn Schlenther sagen. Und man kann als Theaterdirektor des Lebens Notdurft Opfer bringen — denn das Theater gehört dem Publikum und die Werke des Herrn Blumenthal sind genau so unentbehrlich wie ein Wirkwarenmagazin —, aber als Literat zur freien Hand, der Ibsenforschung zurückgegeben, hat man nicht das Recht, zum 60. Geburtstag Blumenthals Homer zu zitieren. Was Blumenthal anlangt und sein Liebesgetändel, so ist gar nichts dagegen einzuwenden, wenn allerorten behauptet wird, er sei »entschlossen, nicht zu altern«. Die Geistlosigkeit, die in Deutschland sofort Respekt einhebt, wenn sie sich des Reimes und der Allongscheperücke bedient, bedarf nur der Routine und nicht der Jahre, und die »nachdenklichen, hochgestimmten Betrachtungen«, die Herr Blumenthal über Frauenliebe und -leben angestimmt hat und die jetzt in allen Feuilletons zitiert werden, sind vermöge ihrer stofflichen Appetitlichkeit der allgemeinen Zustimmung sicher. Hol mich der Teufel, dieser Nestor ist ein Paris. Wie sagt er doch so treffend:

Eine Frau besiegt uns im Wortgefecht selten durch überzeugende Gründe, aber bisweilen durdi unwiderlegbare Küsse.

Vor solchem Gedankenblitz geht ein Schmunzeln durch ganz Deutschland, bei solch moussierendem Kupferberg Gold — köstliches Naß — stupft selbst manche »Hausehre« ihr Alterchen, und ein Voyeur, der von drüben durch das Loch der Vogesen zuschaute, müßte sich die Haut voll lachen. Dabei wird von allen Gratulanten »Mariechens« und des gezähmten »blutigen Oskar« Familienglück etwa so geschildert, als ob ausgerechnet Parthenia den Philemon am Schnürl hätte und das Haupt Ingomars im Schoße der Baucis ruhte. Nur manchmal erhebt er sich, wird nachdenklich und schreibt den Aphorismus hin:

Ich halte es für die größte Bosheit der Moralprediger, dass sie uns immer nur auffordern, in unsern eigenen Busen zu greifen.

In solchen Fällen spricht der Feuilletonredakteur der ›Frankfurter Zeitung‹ die Meinung aus, Blumenthal sei »entschlossen, sein erfolgreiches Studium der Frauen eifrig fortzusetzen.« Mir wird übel, aber ich kann nicht leugnen, ich glaube, mich dünkt, es hat den Anschein: dieser Geront ist ein Vocativus!

 

 

März, 1912.


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