Die folgenden Jahre
(1772-1779)


Soweit die Mitteilungen des wichtigen Briefes vom 21. Februar 1772. Wie sich von da die Entwicklung der Probleme im Inneren des Philosophen im einzelnen weiter vollzog, darüber lassen sich, bei dem Mangel klarer Selbstzeugnisse, nur unsichere Vermutungen aufstellen. Aber es kommt für den Laien, der sich mit der Persönlichkeit und Lehre des Meisters vertraut machen will, auch so viel nicht darauf an. Gibt uns doch der fertige Bau des Systems, wie er großartig vor uns steht, gerade Denkarbeit genug auf, so dass der Nicht-Fachmann sich nicht danach sehnen wird, auch noch die ihn nur verwirrenden, vielfach verschlungenen Pfade kennen zu lernen, die zu diesem Aufbau führten: selbst wenn eine sichere Erkenntnis derselben möglich wäre. Fragen wir uns eingedenk unseres Hauptzweckes, ein tieferes Verständnis von Kants Persönlichkeit zu vermitteln, lieber: Wie kam es, dass der Philosoph, nachdem er schon auf den richtigen Weg gekommen, statt sein Buch, wie er plante, im nächsten Sommer zu veröffentlichen, noch neun Jahre schwerer Gedankenarbeit gebraucht hat? Und welcher Art war seine geistige Stimmung bei dieser Arbeit?

Er selbst führt als Hauptentschuldigungsgrund für den immer wieder erfolgenden Aufschub der Vollendung in seinen Briefen an Herz fast stets mangelnde Gesundheit an (vgl. Briefw. I, S. 93, 117 f., 129, 136, 184, 186, 197, 216, 224 f.). Zugegeben, dass die aufreibende Gedankenanstrengung, zusammen mit den zunehmenden Jahren und seinen vielfachen anderen geistigen Beschäftigungen, ein langsames Vorgehen notwendig machte: zumal da er von vornherein den heilsamen Grundsatz befolgte, sich die zur Erhaltung der Arbeitsfrische bei seinen Jahren doppelt notwendige Erholung und "Intervalle" zu gönnen, unter Umständen "nur immer die Augenblicke der guten Laune zu nutzen, die übrige Zeit aber der Gemächlichkeit und kleinen Ergötzlichkeiten zu widmen" (an Herz, 7. Juni 1771). Allein sein "eingeschränktes" Wohlbefinden, "wobei der größte Teil der Menschen sehr klagen würde", hatte er sich doch schon lange gewöhnt, "vor Gesundheit zu halten", und durch immer strengere Regelmäßigkeit der Lebensweise die schädlichen Wirkungen zu mindern, sich "soviel sich tun läßt, aufzumuntern, zu schonen und zu erholen" gesucht (an Herz, 28. Aug. 1778). Und nach der Veröffentlichung der Kritik ist doch bei der nämlichen körperlichen Verfassung ein Werk um das andere seiner fruchtbaren Feder entsprungen. Der letzte Grund muß also tiefer liegen.

Er beruht auf dem innersten Charakter unseres Philosophen, seinem unerbittlichen Klarheits- und Wahrheitsdrang, verbunden mit einer Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit des geistigen Arbeitens, die nicht eher ruht, als bis sie ihren Gegenstand bis auf den letzten Grund erschöpft hat, und die dabei auch auf die bisherigen eigenen Meinungen nicht die geringste Rücksicht nimmt. "Wir müssen uns immer verbessern," sagte er seinen Studenten in den Vorlesungen. Und "man muß immer wieder zweifeln in der reinen Philosophie", schrieb er in sein philosophisches Tagebuch (die 'Reflexionen'), muß "seine Sätze in allerlei Anwendungen erwägen und ... das Gegenteil versuchen anzunehmen und so längeren Aufschub nehmen, bis die Wahrheit von allen Seiten einleuchtet" (a. a. O., Nr. 5). Die dazu nötige Gemütsstimmung beschreibt er in jenem langen Schreiben an Herz mit den Worten: "Das Gemüt muß in den ruhigen oder auch glücklichen Augenblicken jederzeit und ununterbrochen zu irgendeiner zufälligen Bemerkung, die sich darbieten möchte, offen, obzwar nicht immer angestrengt sein. Die Aufmunterungen und Zerstreuungen müssen die Kräfte desselben in der Geschmeidigkeit und Beweglichkeit erhalten, wodurch man in Stand gesetzt wird, den Gegenstand immer auf anderen Seiten zu erblicken und seinen Gesichtskreis von einer mikroskopischen Beobachtung zu einer allgemeinen Aussicht zu erweitern, damit man alle erdenklichen Standpunkte nehme, die wechselsweise einer das optische Urteil des anderen verifizieren." Selten hat ein Schriftsteller wohl eine solche geistige Trainierung so konsequent Jahre lang durchgesetzt, rein im Interesse der Sache, unbekümmert darum, dass sie von anderen nicht verstanden werde. Er ist sich dessen auch bewußt gewesen: "Ich habe einen glücklicheren Ausgang als alle Vorgänger bloß von der Gemütsverfassung erwartet, in die ich mich versetzte und beständig erhielt, ingleichen von der Länge der Zeit, welche hindurch ich das Gemüt zu jeder neuen Belehrung offen hielt, welche Stücke ich zweifele, dass sie jemals einer vor mir beobachtet hätte." Da er noch "keine großen Bücher" auf dem Gebiet der Philosophie der reinen Vernunft geschrieben, habe er auch seine "Eitelkeit" nicht "in die Notwendigkeit versetzt, sie zu verteidigen und bei einerlei Meinung zu bleiben".

Wir schreiten nun rascher vorwärts, indem wir für den Fortgang des Werkes kurz die wichtigsten Daten aus den Briefen an Marcus Herz aneinanderreihen. Ende 1773: "Was das (sc. die Einzel-Ausführung) in Ansehung der Methode, der Einteilung, der genau angemessenen Benennungen vor Mühe macht und wieviel Zeit darauf verwendet werden muß, werden Sie sich kaum einbilden können." 24. November 1776: "Die Materien ... häufen sich unter meinen Händen, wie es zu geschehen pflegt, wenn man einiger fruchtbaren Prinzipien habhaft geworden. Aber sie werden insgesamt durch einen Hauptgegenstand wie durch einen Damm zurückgehalten," in dessen Besitz er auch schon zu sein glaubt, und wovon er nichts mehr "auszudenken", sondern "nur auszufertigen hat". Dass dabei nicht an einen Einzelabschnitt, sondern an die ganze Kritik d. r. V. zu denken ist, ergibt ein Vergleich mit dem Brief vom 20. August 1777, wo ein ähnliches Bild von dem "Stein im Wege" gebraucht wird. Es gehört "Hartnäckigkeit" dazu, einen solchen Plan "unverrückt" zu befolgen; und öfters haben ihn die Schwierigkeiten gereizt, "sich anderen angenehmeren Materien zu widmen". Aber von solcher "Untreue" habe ihn dann immer wieder nach einer bestimmten Zeit entweder die Überwindung gewisser Hindernisse oder die Wichtigkeit des "Geschäftes" selbst zurückgezogen. Die vier späteren Teile: Kritik, Disziplin, Kanon und Architektonik der reinen Vernunft, stehen ihm jetzt schon fest. Es wird eine "förmliche Wissenschaft" geben, zu der man von den schon vorhandenen philosophischen Systemen nichts brauchen kann, und die zu ihrer Grundlegung ganz neuer technischer Ausdrücke bedarf. Nachdem er die letzten Hindernisse im vergangenen Sommer überstiegen, sehe er nunmehr froh ein freies Feld vor sich.

Am 20. August 1777 ist er sich über die "Idee des Ganzen" klar, die "das Urteil über den Wert und den wechselseitigen Einfluß der Teile möglich macht". Was ihn aufhält, ist jetzt nicht mehr die Schwierigkeit der Sache selber, sondern nur noch die Bemühung, den Inhalt allen Lesern deutlich zu machen: weil auch das, "was man sich selbst geläufig gemacht hat und zur größten Klarheit gebracht zu haben glaubt", doch selbst von Kennern mißverstanden werden kann, "wenn es von ihrer gewohnten Denkungsart gänzlich abgeht". Aus Hamanns Briefen wissen wir, dass Kant um diese Zeit Tetens' neuerschienene 'Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung' (1776/77) eifrig studiert hat (H. an Herder, 13. Okt. 77), die er nach desselben Hamann Mitteilung noch im Mai 1779 "immer vor sich liegen" hatte (H. an Herder, 17. Mai 79). Aber er fand das allzu weitläufige Werk des feinsinnigen Psychologen doch für den Leser ermüdend und ohne festes Resultat (K. an Herz, April 78). Auch konnte ihm für den Hauptzweck seines Werkes weder Lambert noch Tetens nützen: "Ich beschäftige mich nicht mit der Evolution der Begriffe wie Tetens, ... nicht mit der Analysis wie Lambert, sondern bloß mit der objektiven Gültigkeit derselben. Ich stehe in keinem Wettbewerb mit diesen Männern" (Refl. Nr. 231). Um diese Zeit scheint er übrigens vorübergehend an eine nur kurze Schrift, "die an Bogenzahl nicht viel austragen wird", gedacht zu haben (April 78).


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