Vorlesungsprogramm 1765/66


Von kaum zu überschätzendem Wert für die Kenntnis von Kants Lehrweise ist die 'Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765/66', die wir unseren Lesern im Wortlaut zu lesen empfehlen möchten. Auch in ihr zeigt er sich im Einklang mit Rousseaus Rückkehr zur Natur und Humes Rückkehr zur Erfahrung, um beide zu vertiefen. Auch der öffentliche Unterricht muß und kann einfach und natürlich gestaltet werden. Erst muß man einen verständigen, dann einen vernünftigen Zuhörer heranzubilden suchen, denn nicht alle können Gelehrte werden; sonst bekommt man bloß frühkluge Schwätzer. Schicken doch "die Akademien mehr abgeschmackte Köpfe in die Welt als irgendein anderer Stand des gemeinen Wesens". Der aus der Schule entlassene Jüngling soll nicht fertige Gedanken, sondern denken, keine bestimmte Philosophie, sondern, so heißt es wiederum, philosophieren lernen. Anders als in den historischen und mathematischen Wissenschaften, die man auch erlernen kann, muß daher die Methode in der Weltweisheit "zetetisch, d. i. forschend", nicht "dogmatisch, d i. entschieden" sein. Wie er diese Methode in den vier beabsichtigten Privatvorlesungen: Metaphysik, Logik, Ethik und Physische Geographie, durchzuführen gedenkt, setzt der dann folgende zweite Teil des Programms auseinander. überall will er mit der Erfahrung beginnen und vom Leichteren zum Schwereren fortschreiten, was nebenbei auch noch den Vorteil habe, dass der Zuhörer nicht gleich zu Anfang durch zu große Schwierigkeiten abgeschreckt wird und selbst diejenigen etwas mit ins Leben nehmen, deren Eifer vorzeitig "ausdunste". Denn "jedermann weiß, wie eifrig der Anfang der Kollegien von der munteren und unbeständigen Jugend gemacht wird, und wie darauf die Hörsäle allmählich etwas geräumiger werden"! Die Logik will er in ihrer einfachsten Gestalt als das, was der gesunde Verstand uns vorschreibt, vortragen; denn in ihrem höheren Sinn, als Kritik der gesamten Weltweisheit, kann sie erst am Ende der akademischen Unterweisung stehen. In der Ethik will er Shaftesbury, Hutcheson und Hume zu verbessern und zu ergänzen suchen, und zuerst das, was wirklich geschieht, also die Natur, und zwar zunächst die rohe Einfalt des Menschen, studieren, ehe er entwickelt, was geschehen soll, indem er die höchste Stufe der physischen oder moralischen Vortrefflichkeit zu erreichen trachtet. Die Physische Geographie endlich will einen "angenehmen und leichten Inbegriff" von dem heutigen Zustande der Erde geben, von jetzt an auch unter Berücksichtigung der "moralischen und politischen" Geographie der Völker (Adickes bezweifelt freilich nach den erhaltenen Nachschriften dieses Kollegs die wirkliche Durchführung des neuen Programms).


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Seite zuletzt aktualisiert: 29.12.2006 
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