B. Reform der Erziehung
Das Dessauer Philanthropin
Viel wärmer, ja mit wahrer Begeisterung, trat unser Philosoph für ein anderes, aus den tiefsten Ideen der Aufklärung entsprungenes praktisches Unternehmen ein: für eine radikale Reform der Erziehung.
Wir erinnern uns, wie stark Rousseaus Emil ihn innerlich ergriffen hatte (S. I48 ff.). Jetzt suchte man in Deutschland zuerst den Rousseauschen Ideen praktische Folge zu geben. Im Dezember 1774 hatte Basedow zu Dessau, im Einverständnis mit dem dortigen Landesfürsten, eine auf den neuen Erziehungsgrundsätzen beruhende Musteranstalt, das Philanthropin, gegründet, dem dann eine Reihe anderer an anderen Orten folgten. Basedow selber erwies sich freilich infolge seiner rauhen Leidenschaftlichkeit und seines wirtschaftlichen Ungeschicks nicht als der geeignete Mann dazu und trat daher schon 1776 von der eigentlichen Leitung zurück, Aber andere tüchtige Leute, wie Wolke und Campe, traten an seine Stelle. Was Kant von der neuen Erziehung besonders in religiöser Hinsicht erwartete, und wie er selbst darüber dachte, erfahren wir aus dem ausführlichen Briefe, den er im Auftrage seines Freundes Motherby am 28. März 1776 an Wolke richtete. Es handelte sich um die Anmeldung von dessen kleinem, noch nicht sechsjährigem Sohn für die Anstalt. "Die Erziehung desselben ist bisher nur negativ gewesen, die beste, welche man ihm, wie ich glaube, vor sein Alter nur hat geben können. Man hat die Natur und den gesunden Verstand seinen Jahren gemäß sich ohne Zwang entwickeln lassen und nur alles abgehalten, was ihnen und der Gemütsart eine falsche Richtung geben könnte. Er ist frei erzogen, doch ohne beschwerlich zu fallen. Er hat niemals die Härte erfahren und ist immer lenksam in Ansehung gelinder Vorstellungen erhalten worden. Um seine Freimütigkeit zu bewahren und jede Lüge hintanzuhalten, sind ihm einige kindische Fehler auch lieber verziehen worden." In Sachen der Religion stimme der Vater so sehr mit den Grundsätzen des Philanthropins überein, dass es dem Kleinen "bis itzt noch unbekannt geblieben, was Andachtshandlung sei". Er solle solche erst kennenlernen, nachdem die ihm "mit dem Anwachs seines Alters und Verstandes" allmählich gekommene natürliche Erkenntnis von Gott ihn zuvor belehrt habe: dass solche Andachtshandlungen "insgesamt nur den Wert der Mittel haben zur Belebung einer tätigen Gottesfurcht und Gewissenhaftigkeit in Befolgung seiner Pflichten als göttlicher Gebote". Es ist schon völlig die Auffassung, die Kants Religionsschrift 27 Jahre später verkündet.
Nach erhaltener Zusage meldete Kant am 19. Juni d. J. die unmittelbar bevorstehende Abreise des kleinen Motherby in Begleitung seines Vaters, "der einen jeden Tag, welchen sein Sohn außer dem Philanthropin zubringt, vor reinen Verlust hält", an Basedow mit dem Wunsch der "Erhaltung Ihrer der Welt so wichtig gewordenen Person und der von Ihnen gestifteten, den Dank der ganzen Nachwelt verdienenden Anstalt".
Allein er tat mehr. Er tat etwas, wozu der zurückhaltende Mann sonst nicht leicht zu bringen war: er empfahl das Unternehmen in einem, allerdings nicht mit seinem Namen unterzeichneten, geradezu begeistert geschriebenen Artikel in den 'Königsberger gelehrten und politischen Zeitungen', dessen Konzept sich in seinem Nachlaß gefunden hat. Er ist in der Form einer Anzeige des ersten Heftes von Basedows Philanthropinischen Archivs gehalten, einer Zeitschrift "mitgeteilt von verbrüderten Jugendfreunden an Vormünder der Menschheit, besonders welche eine Schulverbesserung beginnen, und an Väter und Mütter, welche Kinder ins Dessauische Philanthropin senden wollen". Gerade, weil Kant im ganzen eine, mindestens nach außen hin, so kühle Natur ist — kühler, als wir, die wir ihn lieben, es manchmal wünschen möchten —, wirkt es doppelt stark, wenn er sich einmal so warmherzig, ja enthusiastisch wie in diesem gleichzeitig mit seinem ersten Briefe (28. März) erschienenen und an Basedow gesandten Artikel äußert: "Das, woran gute und schlechte Köpfe Jahrhunderte hindurch gebrütet haben", das "wodurch eine ganz neue Ordnung menschlicher Dinge anhebt", nämlich "die echte, der Natur sowohl als allen bürgerlichen Zwecken angemessene Erziehungsanstalt, das steht jetzt mit seinen unerwartet schnellen Wirkungen wirklich da". "Um deswillen ist es auch der eigentliche Beruf jedes Menschenfreundes, diesen noch zarten Keim, so viel an ihm ist, mit Sorgfalt zu pflegen ..."; denn "wenn er, wie der glückliche Anfang hoffen läßt, einmal zum vollständigen Wachstum gelangt sein wird, so werden die Früchte desselben sich bald in alle Länder und bis zur spätesten Nachkommenschaft verbreiten". Er trat dann mit lebhaften Worten dafür ein, man solle dem Philanthropin nicht bloß Zöglinge, sondern auch gewandte Lehramts-Kandidaten zuführen, bis dahin aber die Basedowschen Schriften studieren und sich seiner Schulbücher "sowohl in der Privat- als öffentlichen Unterweisung" bedienen.
Das erste öffentliche Examen der Anstalt am 13. Mai, auf das der Artikel auch hinwies, nahm einen guten Verlauf: wenn auch nicht alle geladenen Gäste hatten erscheinen können, u. a. die aus Weimar erwarteten Herren Wieland und Goethe durch eine Krankheit des Herzogs, "dessen Protegés jetzt beide sind", verhindert waren (Rode an Kant, 7. Juli 1776). Trotzdem krankte das Unternehmen an — Geldmangel, und Kant wurde deshalb von Dessau aus gebeten, bei dem reichen Königsberger Kommerzien-rat Fahrenheid, der auch fünf junge Leute schicken wollte, womöglich eine Schenkung von "einigen tausend Talern" flüssig zu machen. Kant steckte sich hinter den rührigen Verleger Kanter, und dessen Beredsamkeit brachte es in der Tat fertig, dass Fahrenheid einen Fonds von 2000 Reichstalern zur Salarierung von Kandidaten stiftete, die dort die neue Methode zwei Jahre lang lernen sollten, um sie später in der engeren Heimat einzuführen; als einen dieser "preußischen Apostel" nahm Kant seinen begabtesten damaligen Schüler Kraus in Aussicht (Kraus an Auerswald, 9. Mai 1776), doch gelangte der Plan aus unbekannten Gründen nicht zur Ausführung.
Gleichwohl kam auch unter Basedows Nachfolger Campe das Institut finanziell auf keinen grünen Zweig. Da veröffentlichte Kant, fast genau ein Jahr nach jenem ersten einen zweiten, diesmal "an das gemeine Wesen" gerichteten und mit K unterzeichneten, noch eindringlicheren Aufruf in derselben Zeitung. Kräftigere und begeistertere Worte sind wohl kaum zu dessen Unterstützung geschrieben worden, als hier von unserem Philosophen. Die bisherigen Erziehungsanstalten Europas sind "insgesamt im ersten Zuschnitt verdorben", weil ihre Methode alter Gewohnheit und sklavischer Nachahmung unerfahrener Zeiten entstammt und der Natur entgegenarbeitet; anstatt dessen wir "in kurzem ganz andere Menschen um uns sehen würden, wenn diejenige Erziehungsmethode allgemein in Schwang käme, die weislich aus der Natur gezogen". Deshalb ist es auch vergeblich, das Heil von einer allmählichen Schulverbesserung zu erwarten. "Sie müssen umgeschaffen werden, wenn etwas Gutes aus ihnen entstehen soll: weil sie in ihrer ursprünglichen Einrichtung fehlerhaft sind, und selbst die Lehrer derselben eine neue Bildung annehmen müssen. Nicht eine langsame Reform, sondern eine schnelle Revolution (diese Worte sind auch von Kant gesperrt) kann dieses bewirken." Deshalb müsse die neue Pflanz- und Musterschule in Dessau, die für den wahren Menschenfreund viel wichtiger sei als das "glänzende Nichts auf dem jederzeit veränderlichen Schauplatz der großen Welt", von allen Seiten und aus allen Ländern Unterstützung erhalten. Gewisse Angriffe und Schmähschriften des "sich auf seinem Miste verteidigenden" alten Herkommens könnten dem Institut nur zur Ehre gereichen. Da indes die "Regierungen jetziger Zeit zu Schulverbesserungen kein Geld zu haben scheinen", so wendet er sich zum Schluß an edeldenkende bemittelte Privatpersonen in allen Ländern mit der Aufforderung, auf die von dem "Dessauischen Edukationsinstitut" herausgegebene Monatsschrift 'Pädagogische Unterhandlungen', womöglich mit freiwillig etwas erhöhtem Beitrag, zu abonnieren.
Es ist rührend, zu sehen, wie der große Gelehrte sich auch im kleinen für die ihm am Herzen liegende Sache einsetzt. So macht er am Schluß des Artikels bekannt, dass man bei ihm selbst von 10—1 Uhr vormittags (also in seinen besten Arbeitsstunden) auf die Campe-Basedowsche Zeitschrift pränumerieren könne; so wirbt er einen ihm näherstehenden früheren Schüler, F. W. Regge aus Tilsit, nicht bloß als Abonnentensammler, sondern auch als Lehrer für das Institut, so steht er mit dessen vornehmsten Lehrern (Campe, Wolke, Ehrmann) in fortgesetztem Briefwechsel. Trotz alledem hatten seine eifrigen Bemühungen wenig Erfolg; er hatte im August nur zehn Königsberger und fünfzehn (wohl durch Regge gewonnene) litauische Abonnenten anzumelden. Die Regierenden waren in diesem Falle übrigens wieder einmal, wie zuweilen auch heute, weitsichtiger als ihre Untergebenen. Man sah von dem anfangs geplanten Rundschreiben eines der Sache günstig gesinnten Provinzialministers an die ostpreußischen Landgeistlichen und Schullehrer schließlich ab, weil — "bei weitem der größte Teil dieses Ordens in unseren Gegenden wider dergleichen Reformationen feindselig gesinnt ist und eine Anempfehlung von ihrem Chef vor einen Zwang aufnehmen würde" (Kant an Campe, 26. August 1777). Mit schmerzlichem Bedauern empfing Kant im Oktober 1777 die Nachricht von Campes notgedrungenem Rücktritt. "Welche Vorstellung", schreibt er ihm daraufhin am 31. d. M., "muß man sich von der menschlichen Natur oder vielmehr von der äußersten Verwahrlosung derselben machen, wenn das Publikum unserer Zeit es mit Gleichgültigkeit ansehen kann, dass ihm zum Besten vereinigte Männer unter der Last der Arbeiten und Mangel der Unterstützung erliegen müssen."
Allein er verzagt gleichwohl nicht. Er bittet Campe, sich durch baldige Wiederherstellung seiner Kräfte und seiner geistigen Frische, der guten Sache zu erhalten. Ob er nicht zu diesem Zwecke die seit geraumer Zeit erledigte, mit 800 Talern dotierte Stelle eines Oberhofpredigers und Generalsuperintendenten von Ost- und Westpreußen nebst der gleichfalls vakanten Stelle eines ordentlichen Professors der Theologie (400 Taler) in Königsberg annehmen wolle? Es bedürfe nur eines Winkes an den Minister von Zedlitz durch einen von Campes Berliner Freunden, und die erstgenannte Stelle sei ihm sicher: "sie ist die vornehmste geistliche Stelle im Lande und nicht eben mit Arbeit überhäuft und gibt dem, der sie bekleidet, den größesten Einfluß auf die Verbesserung des Schulwesens im Lande." Das Publikum aber werde sich freuen, einen "so berühmten als geliebten" Lehrer zu bekommen. Campe dankte in einem lesenswerten Briefe vom 13. Mai 1778 herzlich für Kants gütiges Anerbieten, glaubte jedoch, bei der durch die Dessauer "Leiden" über ihn gekommenen "großen Entkräftung an Seel' und Leib", das ihm angebotene Amt nicht annehmen zu dürfen und zog sich vorläufig ins Privatleben zurück, um im Kleinen und im Stillen für die neue Methode zu wirken.
Selbst jetzt gab der Philosoph die einmal mit solcher Entschiedenheit von ihm ergriffene Sache nicht auf. Er wollte sogar seine wichtigsten Arbeiten eine Zeitlang zur Seite legen, um etwas für die 'Unterhandlungen' zu schreiben, obwohl er nicht wisse, ob ihm "die pädagogische Schreibart" gelingen werde (an Campe, 31. Oktober 1777); wozu es dann doch nicht gekommen ist. Und wieder spricht er am 4. August 1778 dem jetzigen Leiter des Philanthropins, Wolke, seinen bewundernden Dank aus, als dem "letzten Anker, auf dem alle Hoffnung der Teilnehmer an einer Sache, deren Idee allein das Herz aufschwellen macht, itzt beruht". Neben dieser unzerstörbaren Begeisterung aber zeigt er in diesem Schreiben auch ein Maß praktischer Weltklugheit, ja, wenn man will, beinahe jesuitischer Schlauheit, die bei dem strengen Weisen fast humoristisch anmutet. Die Redaktion der Kanter'schen Zeitung, "durch welche allein gelehrte Ankündigungen im Publikum verbreitet werden können", lag augenblicklich in den Händen des reformierten Hofpredigers Dr. theol. Crichton, der sich bis dahin nicht besonders günstig über das Philanthropin geäußert hatte; begreiflich genug bei einem Manne, der u. a. eine lateinische Schrift herausgegeben hatte: "ob die Teufel Wunder tun können"! (1763). Begreiflich auch, dass er und Kant, um des letzteren Worte zu gebrauchen, in ihren Prinzipien "himmelweit auseinander waren": "er sieht die Schulwissenschaft als das einzig Notwendige an und ich die Bildung des Menschen, seinem Talente sowohl als Charakter nach." Diesen etwas eitlen und oberflächlichen, wenn auch sonst ganz braven, Mann galt es nun ad maiorem Philantbropini gloriam zu gewinnen; und unser Philosoph führte dies, wie ein Vergleich seiner beiden Briefe an den Hofprediger (29. Juli) und Wolke (4. August) sehr ergötzlich an den Tag legt, in recht schlauer Weise durch. Sr. Hochehrwürden gab er zu verstehen, dass die Sache viel besser gehen würde, wenn "Sie sich dieser Sache vorzüglich anzunehmen beliebeten und Ihren Namen und Feder zum Besten derselben verwenden wollten". Se. Hochehrwürden könne das um so eher, da jetzt "nach dem Abgange einiger sonst wohlgesinneter, übrigens aber etwas schwärmenden Köpfe alle Stellen mit ausgesuchten Schulmännern besetzt und die neue, jetzt mehr geläuterte (!) Ideen mit dem, was die alte Erziehungsart Nützliches hatte (!), in feste Verbindung gebracht" seien. Das wirkte, indem er ihm auf diese Weise, wie er Wolke einige Tage später schreibt, "einen Weg ließ, ohne sein voriges Urteil zu widerrufen, zu einem ganz entgegengesetzten überzugehen"; denn "die, so ihren Beifall verweigern, solange sie nur die zweite Stimme haben, werden gemeiniglich ihre Sprache ändern, wenn sie das erste und große Wort führen können".
Mit einem kurzen, aber herzlichen Dankschreiben Wolkes vom 28. Oktober 1778 schließt der unmittelbare Briefwechsel über das Philanthropin. Dass Kant jedoch auch in den 80er Jahren noch als dessen Freund bekannt war, beweisen verschiedene Briefe an ihn. Noch im November 1788 überweist er dem alten Freunde, Kriegsrat Heilsberg, "Unterrichtsfragen für Schullehrer auf dem Lande", und noch später interessierte er sich lebhaft für die Übernahme eines Königsberger Privaterziehungsinstitutes durch einen seiner Lieblingsschüler (wahrscheinlich Jachmann).