Kant und Herder


Die geistige Kluft zwischen beiden tritt aufs neue zutage in einem vom 6. bis 9. April von ihnen geführten Briefwechsel über die Aufsehen erregende Schrift eines Mannes, der ihnen beiden nahe stand. Es war Herder, der sich inzwischen, nach seinem eigenen Ausdruck, aus einem "theologischen Libertin" (Freigeist) "fast in einen mystischen Begeisterer" verwandelt und von seinem Bückeburger Predigerposten aus soeben das eigentümlichste und phantastischste Werk seiner Sturm- und Drang-Periode veröffentlicht hatte: die 'Älteste Urkunde des Menschengeschlechts'. Er glaubte eine besonders großartige Entdeckung damit gemacht zu haben, dass er in dem bekannten Siebentagewerk nur die mosaische Ausdeutung einer mystischen Hieroglyphe erblickt, von der alle menschliche Kunst und Wissenschaft ihren Ursprung genommen habe, und trägt diese Phantasie mit einem durchaus ungerechtfertigten Selbstbewußtsein unter allerlei prahlerischen Überschriften vor. Seine Polemik richtet sich dabei weniger gegen die Offenbarungsgläubigen als gegen die philologische Erklärungsmethode des gelehrten Göttinger Orientalisten Michaelis und die "dünneste deistische Wasserbrühe" des gesunden Menschenverstandes. Oder, um mit den Worten seines damaligen begeisterten Anhängers Goethe zu reden: Er führt die "hohe heilige Kunst der simplen Natur ... in dämmerndem, wetterleuchtendem, hier und da morgenfreundlich lächelndem, orphischem Gesang von Aufgang herauf über die weite Welt, nachdem er vorher die Lasterbrut der neueren Geister, De- und Atheisten, Philologen, Textverbesserer, Orientalisten usw. mit Feuer und Schwefel und Flutsturm ausgetilget" (Goethe an Schönborn, 8. Juni 1774).

Diese merkwürdige Schrift seines Freundes Herder nun schickte Hamann, sofort nachdem er selbst sie erhalten und seiner Gewohnheit nach alsbald verschlungen, zu Kant als dem "iudex competens [zuständigen Richter] alles Schönen und Erhabenen" (an Herder, 2. April 1774); wobei freilich Herder sogleich ahnt, dass der "Pontius Pilatus des guten Geschmackes in Preußen" sich "daran stoßen und ärgern" würde. Kants Antwort ist in zwei ausführlichen Briefen vom 6. und 8. April erhalten, worauf Hamann in zwei noch längeren, später als "Prolegomena des christlichen Zöllners Zachäus an den Philosophen Apollonius", veröffentlichten "Antwortschreiben" erwiderte. Uns interessiert nur die allgemeine Art, wie sich der Philosoph zu dem Standpunkt des einstigen Schülers und seines Parteigängers stellt. Kant verlangt im ersten Brief mit ironischer Bescheidenheit nichts "als das Thema des Verfassers überhaupt nur zu verstehen". Hamann möge ihm in einigen Zeilen seine Meinung mitteilen, "aber womöglich in der Sprache der Menschen!" "Denn ich armer Erdensohn bin zu der Göttersprache der anschauenden Vernunft gar nicht organisiert. Was man mir aus den gemeinen Begriffen nach logischer Regel vorbuchstabieren kann, das erreiche ich noch wohl." Und am Schluß des zweiten Briefs äußert er seine starke Befürchtung "vor die lange Dauer des Triumphs ohne Sieg" des "Wiederherstellers der Urkunde", also Herders; denn "es steht gegen ihn ein dichtgeschlossener Phalanx der Meister orientalischer Gelehrsamkeit, die eine solche Beute durch einen Ungeweihten von ihrem eigenen Boden nicht so leicht werden entführen lassen".


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