Zweites Kapitel
Zweite Periode der Magisterzeit (1762—70)

Äußeres Leben: Der "galante" Magister
Wendung durch Rousseau 1762


Um das Jahr 1762 tritt eine Wendung in Kants innerem Leben ein, von der uns deutlich hur eine bedeutsame Randbemerkung von seiner Hand in dem Handexemplar seiner 'Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen' Kunde gibt. Erinnern wir uns jenes merkwürdigen Briefes an Lindner (1759), der tiefe Unbefriedigtheit über die Menschen, von denen er umgeben ist, mit innerem Stolz auf seinen Gelehrtenberuf verband. Diesen von Pedanterie entfernten Stolz des Geistesaristokraten drückt in einfachen, aber unnachahmlich schönen Worten die erste Hälfte der neuen Niederschrift aus: "Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiterzukommen, oder auch die Zufriedenheit bei jedem Fortschritte. Es war eine Zeit, da ich glaubte, dies alles könnte die Ehre der Menschheit machen, und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß." Dann aber nennt er den Namen des Mannes, der einen völligen Umschwung in seinem Wesen bewirkt hat: "Rousseau hat mich zurecht gebracht." Jener "verblendete Vorzug verschwindet. Ich lerne die Menschen ehren und würde mich viel unnützer finden als die gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, dass diese Betrachtung allen übrigen einen Wert geben könne, die Rechte der Menschheit herzustellen."

Jahr und Tag dieser Wendung vermögen wir nicht, wie es bei Goethe oder Schüler so oft möglich ist, mit Bestimmtheit festzustellen. Wahrscheinlich war es 1762. Vermutlich hat zwar Kant, der ja überhaupt ein starker Leser war, auch schon Rousseaus erste Schriften aus den 50er Jahren bald nach ihrem Erscheinen gelesen. Eine solche Kenntnis scheinen z. B. die beiden Briefe Hamanns an Kant aus dem Jahre 1759 (S. 91 f.) vorauszusetzen. Aber einen nachhaltigen Eindruck haben sie damals schwerlich auf ihn gemacht. Noch das Universitätsprogramm 'Über den Optimismus' (Herbst 1759) verrät, wenn es auch gelegentlich das "bündige Urteil" des gemeinen Verstandes über die subtilen Irrtümer der Schulgelehrsamkeit setzt, nichts von Rousseauschem Einfluß, sondern geht in den Geleisen Leibnizens. Nun aber brachte im Sommer 1762 Kants späterer Hauswirt, der rührige Buchhändler Kanter, den in Frankreich auf den Scheiterhaufen gekommenen Contrat social aus Holland mit nach Königsberg, und Ende Juli wurde dort jeden Tag die Ankunft des Emile erwartet. Im Hochsommer 1762 also muß das Ungewöhnliche und Vielerzählte sich zugetragen haben, dass Magister Kant, von der Lektüre des soeben erschienenen Emile gefesselt, einige Tage lang seinen regelmäßigen Spaziergang aufgab.*)

 

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*) Auf diese Bemerkung beschränkt sich Borowski, Kants ältester Biograph, während Jachmann und Wasianski überhaupt nichts davon erwähnen. Daraus hat sich dann mit der Zeit die bekannte Legende gebildet, die sich neuerdings selbst in Kühnemanns "Herder" (1912) zu dem "ungeheuren" Ereignis verdichtet hat, dass Kant, "die Normaluhr Königsbergs", "eines Tages im Jahre 1762 abends um 7 Uhr nicht auf seinem Spaziergang gesehen wurde".


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