C. Die literarische Revolution der 70er Jahre.
Genieperiode

Kant und Hamann


Für die neue Erziehung war in fast noch höherem Grade als die Männer der Aufklärung, das junge Geschlecht begeistert, das auf das Evangelium Rousseaus schwur, "Rückkehr zur Natur" zum Lösungswort auf allen Gebieten erhob und von der Dürre der bloßen Verstandesbildung zu den reicheren Quellen der Phantasie und des Gemüts zurückstrebte. So waren innere wie äußere Beziehungen auch für Kant gegeben. Freilich mußte der in ihm schon gegen Rousseau aufkeimende Gegensatz gegenüber den "Neuesten" um so stärker werden, je mehr sich ein Teil von ihnen in mystischen Gefühls- und Offenbarungsglauben, ein anderer in die Überschwenglichkeiten und Wüstheiten der Kraft- und Original-Genies verlor.

Einen der geistigen Führer der "Sturm- und Drang"-Bewegung hatte ja unser Philosoph in nächster Nähe — wir kennen ihn bereits —: Johann Georg Hamann. Wer die Beziehungen beider, etwa an der Hand von Heinrich Webers 'Hamann und Kant' (1904) oder des mehrfach edierten Hamannschen Briefwechsels, im einzelnen zu verfolgen sich nicht verdrießen läßt, der wird ein beständiges Auf und Ab derselben wahrnehmen, wie Hamann selber es gleich zu Beginn ihrer näheren Bekanntschaft vorausgesehen hatte. Kant erwies sich ihm in äußeren Dingen oft gefällig, verschaffte ihm u. a. durch seine Fürsprache die wenigstens seinen Lebensunterhalt sichernde Stelle eines "Übersetzer-Sekretärs", später Packhofverwalters am Zollamt. So fühlt sich denn Hamann, der jüngere von beiden, mit seinem warmen und ungestümen Herzen, dem berühmten Landsmann dankbar verpflichtet und sucht immer wieder mit ihm anzuknüpfen, ohne dass es doch zu einem dauernden inneren Verständnis kommt. Sie waren eben beide doch zu entgegengesetzte Naturen. Welcher Gegensatz schon in der äußeren Erscheinung! Hier der zierliche, in den Formen der guten Gesellschaft bewanderte, stets korrekt gekleidete "kleine Magister"; dort der unförmliche, kahlköpfige und stotternde Hamann, der sein Lebtag zu keinem ordentlichen Anzug kommen konnte, den nach seinem eigenen Geständnis "die Unvermögenheit der Aussprache und eine ebenso empfindliche Gemütsart als Leibesbeschaffenheit zu den meisten öffentlichen Bedienungen untüchtig" machten. Kants Lebensführung war auch wirtschaftlich bis ins kleinste geregelt, er war auch in den Zeiten, wo es ihm knapp ging, stolz darauf, dass er nie das Hereintreten eines Gläubigers zu fürchten brauchte, und hat es schließlich zum wohlhabenden Manne gebracht; Hamann kam beinahe bis zu seinem Ende aus den Nahrungssorgen nicht heraus und litt doch mit einer Art leichtsinnigen Gottvertrauens, was den schlecht und recht bürgerlich denkenden Philosophen unglücklich gemacht hätte. Kant hat sich schon früh ein festes Lebensziel gesetzt, das er mit Ausdauer verfolgt und auch erreicht, er konzentriert sich in Wissenschaft und Leben; Hamann haftet in beiden an nichts fest, versucht alles mögliche, um unbeständig wieder abzuspringen. Trotz reicher Begabung findet er nicht den inneren Halt in sich selbst, wie Kant, und sucht ihn deshalb "in Christo", wie er denn ausdrücklich das Christentum als eine Religion für unsere Schwachheiten bezeichnet und an Gottes unmittelbares Eingreifen auch in die Kleinigkeiten des täglichen Lebens glaubt.

So fehlt ihm, um nur ein Beispiel aus dem Gebiete der Wissenschaften herauszugreifen, jedes Verständnis für Kants naturwissenschaftliche Anschauung; denn für ihn, den "Magus", wie er sich selbst gelegentlich nennt, ist Naturerkenntnis in erster Linie Gotteserkenntnis. Recht bezeichnend für die Stellung beider zur Naturwissenschaft ist eine kleine Geschichte, die Hamann selbst seinem Herder wiedererzählt hat. An einem sternenklaren Frühlingsabend kurz vor Pfingsten 1768 sitzen beide mit Green zusammen in dessen Garten. Da regt der Anblick des gestirnten Himmels Kant zu der "Versicherung" an, man könne keine neue wichtige Entdeckung in der Astronomie mehr erwarten wegen ihrer Vollkommenheit; während Hamann sich bewußt wird, weshalb er "den neuen Hypothesen der Sternkunst so gehässig war, ohne sie zu verstehen", "vielleicht bloß", weil sie ihn — "in der Andacht störten, womit ich eines meiner liebsten Abendlieder empfand: Also werd' ich auch stehen, Wann mich wird heißen gehen usw." Sein an sich fruchtbares Drängen auf das Ganze anstatt der Teile, auf das Erfassen des Lebens anstatt der Formeln, der urwüchsigen Natur statt aller Künstelei, entwickelt sich immer mehr zur Abneigung, ja zum Haß gegen alle Vernunft, Aufklärung und auf sich selbst stehende Philosophie. "Je dunkler, desto inniger", "Entwöhnt vom System müssen wir werden", "Optimus maximus verlangt keine Kopfschmerzen, sondern Pulsschläge": das sind Kernsätze Hamanns, zu denen Kants Art in schroffem Widerspruch steht; ebenso wie dessen Schätzung von Kritik und Methode, während es Hamann nach seinem eigenen Bekenntnis "wirklich an Methode und Schule fehlt".

Dass alle Vorzüge auf Seiten des Philosophen, alle Schwächen auf Seiten des "Magus" seien, wollen wir damit nicht behaupten. Schärfer als Kant oder Lessing erkannte oder lebendiger fühlte doch Hamann insbesondere, dass Poesie und Sprache ihre Quelle nicht in bewußter Reflexion, sondern in der Tiefe der Empfindung haben. Nicht Kant,*) sondern Hamann hat Sätze formuliert wie die: "Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts, wie ... Malerei älter ist als Schrift, Gesang älter als Deklamation, Gleichnisse älter als Schlüsse ..." "Die Natur wirkt durch Sinne und Leidenschaften ... Leidenschaft allein gibt den Abstraktionen und Hypothesen Hände, Füße, Flügel, Bildern und Zeichen Geist, Leben und Zunge." Auf diesem Felde ist Hamann ohne Frage die reichere, Kant die ärmere Natur.

 

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*) Wenn er auch in Vorlesungen zu betonen pflegte, dass die Poesie der Prosa vorausgehe; vgl. Vorlesungen über Menschenkunde S. 150, Metaphysik S. 8.


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