Fünftes Kapitel
Der Professor der Logik und Metaphysik
(1770-1780)

Antritt des neuen Amtes


Der gesetzlichen Vorschrift gemäß konnte der zum Professor Ordinarius Ernannte sein Amt offiziell erst nach der öffentlichen Verteidigung einer neuen von ihm, selbstverständlich in lateinischer Sprache, verfaßten Abhandlung, der sogenannten 'Inaugural-Dissertation' — heute bekanntlich die Bezeichnung für die Dr.-Arbeiten unserer Universitäten — antreten. Kants Arbeit behandelte 'Die Form und die Prinzipien der Sinnen- und der Verstandeswelt'; da sie eine wichtige Etappe in seiner philosophischen Entwicklung darstellt, werden wir auf ihren Inhalt später noch zurückkommen. Sein Disputationsakt fand am 21. August 1770 im Auditorium maximum der Universität statt. Zu "Opponenten" hatte er einen Theologie-, einen Rechtskandidaten und einen Studiosus der [freien ?] Künste, also offenbar jetzige oder gewesene Zuhörer, gewählt. Wer ihm außerdem von seinen zukünftigen Fakultätskollegen opponiert hat — es mußten mindestens zwei sein —, ist nicht überliefert. Das wichtigere Amt des "Respondenten", d. h. Verteidigers gegen die vorangehenden Angriffe, hatte er einem ihm besonders nahe-stehenden älteren jüdischen Studenten, namens Marcus Herz, anvertraut. Herz, 1747 in Berlin geboren, war als Kaufmannslehrling nach Königsberg gekommen, hatte sich aber dort, innerem Drange folgend, dem Handelsberufe ab- und dem Studium der Medizin und Philosophie zugewandt und vier Jahre nicht bloß Kants Unterricht, sondern auch seinen näheren Umgang genossen und seinerseits viel zur Bildung seiner Königsberger Glaubensgenossen beigetragen. Unbekümmert um die Vorurteile einiger orthodoxer Amtsgenossen, von denen einer seiner Befriedigung darüber Ausdruck gab, dass "der Jude" wenigstens an dem der Feier folgenden Professorenschmaus nicht teilnehmen dürfe, empfahl Kant vielmehr Herz, bei dessen bald nach der Disputation stattfindenden Rückkehr nach Berlin, in Briefen an Lambert und Minister von Fürst als einen "geschickten jüdischen studiosum von Verdiensten" und als "einen wohlgesitteten, sehr fleißigen und fähigen jungen Menschen". Wir werden noch von ihm hören.

Unter seinen damaligen Zuhörern war der neue Professor namentlich bei den Kur- und Livländern beliebt, wie auch er diese besonders gern gehabt haben soll. Sie, es waren 17 an der Zahl, überreichten ihm zu seinem Ehrentage ein begeistertes Huldigungspoem von zwölf Strophen, dessen Dichter der durch seine Zugehörigkeit zu den "Stürmern und Drängern" bekannte, später in Wahnsinn verfallene Reinhold Lenz war. Sind die Verse auch etwas überschwenglich, so zeichnen sie sich doch vor Gelegenheitserzeugnissen ähnlicher Art durch wirklichen Gedankeninhalt vorteilhaft aus. Kant wird als "der Menschheit Lehrer" gepriesen, der, was er lehrt, auch selbst übet, dessen Auge sich nie durch äußeren Schein blenden ließ, welcher der in Orden und Kutten stolzierenden Torheit die Maske abriß und zeigte, wie die Wahrheit oft in schlechten Kitteln und verräucherten Hütten wohnt, der Einfalt im Denken, Natürlichkeit im Leben empfahl, der seiner Schüler Wissensdurst gestillt, ohne ihn zu löschen, und der sie von der Todesfurcht befreit habe. Den Schluß bildet das Gelübde, in seinem Sinne leben und auch die Nachkommen erziehen zu wollen, sowie der Ausdruck des Stolzes, dass Kants Genie Deutschland an die Seite von Frankreich gestellt habe. Der Philosoph hat die ihm überreichte Huldigungsgabe in hohen Ehren gehalten. Noch heute ist das vortrefflich erhaltene, auf weißem Atlas gedruckte Exemplar — der Einband aus rotem Samt mit Goldborte, das Innere mit himmelblauem Atlas überzogen — unter den Sehenswürdigkeiten der Königsberger Universitäts-Bibliothek zu sehen.

Der neue Professor der Logik und Metaphysik rückte im Laufe der Zeit allmählich in die üblichen akademischen Nebenämter und Würden ein. Im Jahre 1776 wurde der bereits 52 jährige zum ersten Male Dekan seiner Fakultät, 1780 trat er an Stelle des verstorbenen Moralprofessors Christiani auch als ständiges Mitglied in den aus zehn Professoren bestehenden Senat der Akademie. Zu seinem bis dahin 236 Taler 75 Groschen an Gehalt und "Emolumenten" betragenden Einkommen traten seitdem die Senatorengebühren von 27 Talern 76 Groschen 10 Pfennig jährlich hinzu. Einen Ruf an das akademische Gymnasium in Mitau, der 1775 an ihn erging, abzulehnen, wird ihm trotz dieser mangelhaften Einnahmen nicht schwer geworden sein. Denn er lebte gern in Königsberg.


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