Träume eines Geistersehers


Den Höhepunkt und literarisch zugleich den Schluß von Kants empiristischer und dabei der Skepsis zuneigender Periode stellte die Schrift des Jahres 1766: 'Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik' dar. Nur andeuten können wir die äußere Veranlassung dieser wiederum für ein allgemeineres Publikum bestimmten, zuerst anonym herausgegebenen Schrift. Der schwedische Spiritist Emanuel von Swedenborg (1688—1772) hatte durch seine theosophischen Schriften, mehr noch durch die Berichte über sein Fernsehen und seinen Verkehr mit den Geistern Verstorbener, viel von sich reden gemacht. Kant faßte, trotz seiner gesunden rationalistischen Grundstimmung, doch so viel Interesse für den Wundermann, dass er es sich die für seine Verhältnisse recht beträchtliche Summe von sieben Pfund Sterling kosten ließ, Swedenborgs Arcana coelestia (= Himmlische Geheimnisse), "acht Quartbände voll Unsinn", zu erwerben. Das "ungestüme Anhalten" "vorwitziger und müßiger Freunde" (und Freundinnen, wie Fräulein von Knobloch) veranlaßte ihn dann zu seinem im Herbst 1765 ziemlich eilig abgefaßten kleinen Buch. Für uns sind jedoch, wie für ihn selbst, nicht die in dem kürzeren zweiten Teil behandelten 'Träume des Geistersehers' die Hauptsache, sondern die 'Träume der Metaphysik'. Worin bestehen sie ?

Das erste Kapitel wirft eigentlich bloß Fragen auf: Was ist ein Geist? Sind Geister körperlich? Wo im Körper hat die Seele ihren Sitz? Wie ist die Gemeinschaft von Geist und Körper zu denken? Wie die "innere" Tätigkeit der Materie? Diese und andere, noch von der Naturphilosophie unseres 20. Jahrhunderts umstrittene, Probleme bleiben für Kant Fragen, über die sich Gewisses nicht ausmachen läßt. Er wenigstens mache sich anheischig, jedem etwaigen Gegner sein Nichtwissen auf diesem Gebiete zu beweisen. Man kann nun diesen "verwickelten metaphysischen Knoten" nach Belieben "auflösen oder abhauen". Versucht man das erstere und gibt dabei immaterielle Geister zu, so führt uns die "geheime Philosophie" des zweiten Kapitels bald genug zur Annahme eines ganzen Geisterreiches. Die Gesetze immaterieller Kräfte kennen wir zwar nicht; aber empfinden wir nicht täglich die Abhängigkeit unseres eigenen von einem "allgemein-menschlichen" Urteilen und Wollen? Könnte es also nicht, entsprechend der physischen, auch eine geistigsittliche Anziehungskraft geben? Und einen ebensolchen Zusammenhang innerhalb der Geisterwelt, der sich auch nach unserem Tode fortpflanzte, so dass Geister mit uns reden und uns in menschlicher Gestalt erscheinen könnten? — Nein, erklärt die 'Antikabbala' (Kap. 3), das sind eben "Träume der Metaphysik", von metaphysischen Luftbaumeistern ("Träumern der Vernunft") oder von "Träumern der Empfindung" ersonnen. Die Sinnestäuschungen der Geisterseherei aber entspringen krankhaften Gehirnnerven, deren Besitzer man am besten einer Heilanstalt anvertrauen sollte. Trotz alledem, so lautet der "theoretische Schluß" (Kap. 4), verführt auch den Vorurteilsfreiesten "die Hoffnung der Zukunft" zu Spekulationen, die auch Kant "nicht heben kann und in der Tat auch niemals heben will". Denn das Woher? Wo? und Wohin? des menschlichen Geistes ist mit so vielen Rätseln verbunden, dass er sogar "nicht gänzlich alle Wahrheit an den mancherlei Geistererzählungen abzuleugnen" sich unterstehen will. Ober dergleichen Dinge könne man auch künftighin "vielleicht noch allerlei meinen, niemals aber mehr wissen".

So ist denn der wichtigste Nutzen der gesamten Erörterung negativer Art. Die Metaphysik muß zur "Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft" werden, die den "Boden der Erfahrung" und des "gemeinen Verstandes" nicht verläßt. Und wie mit diesem theoretischen Ergebnis schon die anderthalb Jahrzehnte später erscheinende Kritik der reinen Vernunft vorbereitet ist, so enthält der "praktische Schluß aus der ganzen Abhandlung" (Endkapitel) bereits die Keime der kritischen Ethik und Religionsphilosophie. Eine die Erfahrung übersteigende Erkenntnis ist unmöglich, aber auch unnötig. An ihre Stelle muß der moralische Glaube treten, der den Menschen "ohne Umschweif zu seinen wahren Zwecken führt". Mag auch "niemals eine rechtschaffene Seele den Gedanken haben ertragen können, dass mit dem Tode alles zu Ende sei", so scheint es unserem Philosophen doch "der menschlichen Natur und der Reinigkeit der Sitten gemäßer zu sein, die Erwartung der künftigen Welt auf die Empfindungen einer wohlgearteten Seele, als umgekehrt ihr Wohlverhalten auf die Hoffnung der anderen Welt zu gründen". Mögen die müßigen und wißbegierigen Köpfe sich gedulden, bis sie dahin kommen! Wir aber wollen, so schließt das Ganze, nach so viel unnützen Schulstreitigkeiten, mit Voltaires ehrlichem Candide "unser Glück besorgen, in den Garten gehen und arbeiten"!

Man würde indes die "Träume" nur halb kennen, wenn man bloß ihren philosophischen Gedankengang im Kopfe hat. Man muß sie selbst lesen, um die Mischung von behaglicher Ironie, keckem Witz und heiterer, ja übermütiger Laune zu empfinden, die der Stimmung siegesgewisser Überlegenheit entspringt.*) Sie übergießt die große Mehrzahl der Fachgenossen, darunter so angesehene wie Wolff und Crusius, insbesondere auch die "Akademien" mit der Lauge schärfsten Spottes: "Weil dieser Anschlag so vernünftig ist, so ist er jederzeit von gründlichen Gelehrten durch die Mehrheit der Stimmen verworfen worden" (S. 4). Man liebt auf den hohen Schulen "methodisches Geschwätz", weil Montaignes "mehrenteils vernünftiges: 'Ich weiß nicht' auf Akademien nicht leichtlich gehört wird" (5), während der "akademische Ton ... entscheidender ist und sowohl den Verfasser als den Leser des Nachdenkens überhebt" (21). Seine eigene philosophische Stimmung dagegen und damit die neue Methode schildert er im Anfang des vierten Kapitels in den Sätzen: "Ich habe meine Seele von Vorurteilen gereinigt, ich habe eine jede blinde Ergebenheit vertilgt, welche sich jemals einschlich, um manchem eingebildeten Wissen in mir Eingang zu verschaffen. Jetzt ist mir nichts angelegen, nichts ehrwürdig, als was durch den Weg der Aufrichtigkeit in einem ruhigen und für alle Gründe zugänglichen Gemüte Platz nimmt; es mag mein voriges Urteil bestätigen oder aufheben, mich bestimmen oder unentschieden lassen. Wo ich etwas antreffe, das mich belehrt, da eigne ich es mir zu," Warum sollten auf diesem Wege nicht auch einmal die Philosophen zu einer wissenschaftlichen Einigung gelangen, wie sie die "Größenlehrer" (Mathematiker) schon längst besitzen? Dass es in nicht zu langer Zeit dazu kommen werde, meint der Verfasser aus "gewissen Zeichen und Vorbedeutungen" schließen zu dürfen, "die seit einiger Zeit über dem Horizonte der Wissenschaften erschienen sind" (S. 33).

 

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*) Innere Verwandtschaft zeigt sie in dieser Beziehung am meisten mit den von Kant geliebten derben englischen Romanen von der Art von Butlers Hudibras, während philosophisch der Einfluß Humes am stärksten ist, an dessen Enquiry, wie A. Riehl gezeigt hat, manche Stellen, besonders die Schlußseiten, auffallend erinnern.


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