Der junge Herder


Dafür erntete er denn auch die Begeisterung aller begabten Köpfe und des Enthusiasmus fähigen Gemüter unter seinen Hörern. So erzählte der spätere Kriminalrat Jensen noch nach 30 Jahren Abegg, wie interessant Kant in seinen Vorlesungen gewesen sei. Er sei wie in einer Begeisterung aufgetreten und habe dann gesagt: Da und da sind wir stehen geblieben. Die Hauptidee habe er sich so tief und lebendig eingeprägt, dass er nur nach derselben und in derselben die ganze Stunde lebte und oft auf das Kompendium, worüber er las, wenig Rücksicht nahm. Der berühmteste seiner Hörer wurde der junge Herder, der nach einer trüben, in seinem Heimatstädtchen Mohrungen verlebten Jugend mit 18 Jahren nach Königsberg kam, um alsbald ein begeisterter Verehrer Magister Kants zu werden. Gleich die erste Vorlesung, in der dieser seine freieren religiösen Ansichten durchblicken ließ, machte mächtigen Eindruck auf ihn. Seine glühende Begeisterung machte sich in enthusiastischen Versen Luft, die man in seinem Nachlaß gefunden hat: "Als ich in Sklavenketten lag, da kam Apoll — die Fessel weg! mein Erdenblick ward hoch — Er gab mir Kant!" Und ähnlich zwei Jahre später: "Die Fessel weg — so sprach Apoll," er schwingt den "neuen Hut der Freiheit" und — "hörte Kant". Dieser ließ den begabten, aber armen Studenten, der sich sein Brot durch Unterricht am Fridericianum verdienen mußte und deshalb nur wenig Zeit zum Collegienhören hatte, wie er in solchen Fällen gern tat, unentgeltlich an allen seinen Vorlesungen teilnehmen. So hörte Herder in den vier Semestern 1762—1764 bei ihm Logik, Metaphysik, Mathematik, Moral und — mit besonderem Wohlgefallen — Physische Geographie. "Mit gespannter Aufmerksamkeit", teilte nach Herders Tode dessen Jugendfreund und Mithörer, der Kriegsrat Bock, der Witwe mit, "faßte er jede Idee, jedes Wort des großen Philosophen auf und ordnete zu Hause Gedanken und Ausdruck ... Einst in einer heiteren Frühstunde, wo Kant mit vorzüglicher Geisteserhebung und, wenn die Materie die Hand bot, wohl gar mit poetischer Begeisterung zu sprechen und aus seinen Lieblingsdichtem Pope und Haller Stellen anzuführen pflegte, war es, wo der geistvolle Mann sich über Zeit und Ewigkeit mit seinen kühnen Hypothesen ergoß. Herder wurde sichtbarlich und so mächtig davon betroffen, dass, als er nach Hause kam, er die Ideen seines Lehrers in Verse kleidete, die Hallern Ehre gemacht hätten. Kant, dem er sie am folgenden Morgen vor Eröffnung der Stunde überreichte, war ebenso betroffen von der meisterhaften poetischen Darstellung seiner Gedanken und las sie mit lobpreisendem Feuer im Auditorium vor." Ein ebenso schönes Zeugnis für den Meister wie für den Schüler!

Dass der erstere, trotz der ihm entgegengebrachten glühenden Verehrung des Jünglings, für dessen Mängel nicht blind war, zeigt die Überlieferung, dass der Philosoph nach der Lektüre eines Herderschen Karfreitag-Gedichtes in der Königsberger Zeitung äußerte: "Wenn das brausende Genie wird abgegoren haben, wird er gewiß mit seinen großen Talenten ein nützlicher Mann werden." Die weitere Entwicklung des Verhältnisses zwischen beiden wird uns noch beschäftigen. In der Königsberger Periode Herders und der ihr zunächst liegenden Zeit finden sich jedenfalls "bewußte und unbewußte Reminiszenzen an des Lehrers gedruckte oder ungedruckte Worte zerstreut überall in den Stücken aus Herders Feder", wie "Herders Lebensbild" (von seinem Sohne, Erlangen 1846—1848) zusammenfassend bemerkt; "ja alles, was er von Philosophie besaß, trug im Grunde mehr oder weniger dessen Stempel." Auch zu seiner damaligen Rousseau-Begeisterung war er durch Kant geführt worden, desgleichen zu Hume. Kant hatte ihn "in die Rousseauiana und Humiana gleichsam eingeweiht, aber zugleich auch durch die Metaphysik darüber erhoben", wie er wenige Jahre später an Scheffner schreibt (4. Okt. 1766). Und in seinem 'Journal meiner Reise im Jahre 1769' ruft er, indem er seine radikalen Reformpläne in bezug auf den Philosophie-Unterricht entwickelt, begeistert aus: "Ein lebendiger Unterricht darüber im Geiste eines Kants, was für himmlische Stunden!"

So können wir es wohl begreifen, dass er noch nach drei Jahrzehnten, als sich längst seine Bahnen von denen des kritischen Philosophen getrennt hatten, in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität (1795) die berühmte dankbare Charakteristik des einstigen Lehrers niederschrieb, die wir im Wortlaut wiedergeben müssen, weil sie am anschaulichsten und zusammenfassendsten die äußere Erscheinung wie die Lehrweise des Magisters Kant schildert: "Ich habe das Glück genossen, einen Philosophen zu kennen, der mein Lehrer war. Er, in seinen blühendsten Jahren, hatte die fröhliche Munterkeit eines Jünglings, die, wie ich glaube, ihn auch in sein greisestes Alter begleitet. Seine offene, zum Denken gebaute Stirn war ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit und Freude; die gedankenreichste Rede floß von seinen Lippen; Scherz und Witz und Laune standen ihm zu Gebot, und sein lehrender Vortrag war der unterhaltendste Umgang. Mit ebendem Geist, mit dem er Leibniz, Wolf, Baumgarten, Crusius, Hume prüfte und die Naturgesetze Keplers, Newtons, der Physiker verfolgte, nahm er auch die damals erscheinenden Schriften Rousseaus, seinen Emil und seine Heloise, sowie jede ihm bekannt gewordene Naturentdeckung auf, würdigte sie und kam immer zurück auf unbefangene Kenntnis der Natur und auf moralischen Wert des Menschen. Menschen-, Völker-, Naturgeschichte, Naturlehre, Mathematik und Erfahrung waren die Quellen, aus denen er seinen Vortrag und Umgang belebte, nichts Wissenswürdiges war ihm gleichgültig; keine Kabale, keine Sekte, kein Vorteil, kein Namensehrgeiz hatte je für ihn den mindesten Reiz gegen die Erweiterung und Aufhellung der Wahrheit. Er munterte auf und zwang angenehm zum Selbst denken; Despotismus war seinem Gemüte fremd. Dieser Mann, den ich mit größester Dankbarkeit und Hochachtung nenne, ist Immanuel Kant; sein Bild steht angenehm vor mir."*) So steht der damalige Dozent Kant in der Tat beinahe noch größer als der Schriftsteller da.

Herder hat uns soeben die Namen derjenigen Denker genannt, die Kants lebhaften Geist damals am stärksten beschäftigten. Von Newton und den Physikern haben wir schon im ersten Kapitel dieses Buches gesprochen. Dass er sich mit den Urhebern und Häuptern der eben damals erst ihren Glanz verlierenden deutschen Philosophenschule, den Leibniz und Wolff, und den selbständigeren unter ihren Nachfolgern, Baumgarten und Crusius, in seinem Metaphysik-Colleg auseinandersetzte, war selbstverständlich. Die neuen Namen aber, die uns schon wiederholt begegnet sind, lauten: Rousseau und Hume.

 

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*) Selbst noch als bissiger Gegner in der 'Kalligone' (1800) rühmt er gleichwohl des einstigen Lehrers "dialektischen Witz, wissenschaftlichen Scharfsinn, kenntnisvolles Gedächtnis". Kants Vorlesungen seien "sinnreiche Unterhaltungen mit sich selbst, angenehme Konversationen" gewesen.


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